1914: Das demografisch geschwächte Frankreich
Wie sieht die demografische Situation in Frankreich aus, als das Land am 3. August 1914 in das Kriegsgeschehen eingreift? Seit vielen Jahrhunderten und bis ins Jahr 1860 ist Frankreich das bevölkerungsreichste Land Europas und in manchen Perioden sogar bevölkerungsreicher als Russland. Durch den Rückgang der Geburtenziffer Ende des 18. Jahrhunderts und mit dem Kriegsbeitritt fällt Frankreich jedoch demografisch betrachtet an die fünfte Stelle in Europa zurück, hinter Russland, dem Kaiserreich Deutschland, Österreich-Ungarn und Großbritannien. Und auch Italien rückt weiter auf. Im Jahr 1914 ist die Bevölkerung in Frankreich immer noch sehr ländlich aufgestellt, stagnierend und überaltet. Der Krieg im Jahr 1914 wirft das Land demografisch weit zurück und die Auswirkungen nach dem Krieg sind schwerwiegend.
Wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass in Folge der Frankfurter Verträge, die 1871 das Kriegsende zwischen Frankreich und Deutschland besiegelten, Frankreich nicht nur das Elsass verlor, ausgenommen Belfort, sondern auch einen Teil von Lothringen. Diese Tatsache muss bei sämtlichen Betrachtungen berücksichtigt werden.
Frankreich ist immer noch sehr ländlich ausgerichtet
Im 19. Jahrhundert ist die demografische Veränderung in 60 Departements Frankreichs rückläufig, nur 27 Departements verspüren ein Wachstum. “Während Frankreich in der demografischen Entwicklung eher vereint war, ist im 19. Jahrhundert eine Abwanderung aus dem ländlichen Raum zu erkennen (Seine, Seine-et-Oise, Rhône, Meurthe-et-Moselle, Gironde, Loire-Atlantique oder Bouches-du-Rhône), was einen deutlichen demografischen Abgang verursachte. Zur Abwanderung in die Städte (Seine, Rhône, Gironde) kommt hinzu, dass es an den Grenzen (Alpes-Maritimes) zu ausländischen Einwanderungen kommt, die eine Abwanderung aus den ländlichen Gebieten einschränken, wie an manchen Meeresküsten (Finistère, Morbihan). ” 1
In Folge dieser Abwanderung aus den ländlichen Gebieten nimmt Frankreich im Jahr 1911 im Urbanisierungsgrad2 nur den sechsten Rang ein. Das Vereinigte Königreich, Belgien, Deutschland und Italien belegen die vorderen Plätze, während Frankreich mit Spanien und Schweden gleichauf liegt. “Die Geburtenrate ist sehr spärlich und Frankreich hat nach wie vor eine hohe Landbevölkerung, wodurch die Möglichkeiten für die Entwicklung der Städte deutlich gemindert werden. ” 3
Als Frankreich im Jahr 1914 dem Krieg beitritt, ist das Land immer noch sehr ländlich ausgerichtet. Die große Masse der französischen Infanterie4 stammt aus ländlichen Gegenden und erleidet riesige Verluste, was noch heute durch die vielen Gedenkstätten für die Toten in den kleinen Dörfern ersichtlich ist.
Frankreich im Kontrast zur europäischen Expansion
Nachdem Frankreich im Jahr 1871 Elsass und Moselle abgeben musste, ergibt die Volkszählung im Jahr 19115 eine Bevölkerungsanzahl von 39,6 Millionen Einwohnern6. Die Bevölkerung im Mutterland Frankreich entspricht 9% der europäischen Bevölkerung und 2,5% der Weltbevölkerung. Hierbei kommen 74 Einwohner auf einen km2, die geringste Anzahl unter allen großen europäischen Ländern, ausgenommen Russland.
Dieses Bild wurde ungefähr im Jahr 1950 veröffentlicht und trägt folgenden Kommentar:
“Mitteleuropa und Germanien vor 1914: Ein beträchtliches Reservoir an Einwohnern.”
Quelle: Dokument des Autors.
Wie bereits im 19. Jahrhundert steigt auch Anfang des 20. Jahrhunderts die Bevölkerung in den europäischen Ländern schneller an als in Frankreich. Der Abstand vergrößert sich dann sogar in dem Moment, als andere Länder Europas eine hohe Emigration verzeichnen.
Die Bevölkerung in Europa:
Bevölkerung |
Millionen Einwohner 1871
|
Millionen Einwohner 1911
|
Gesamtzuwachs in Millionen Einwohnern zwischen 1871 und 1911
|
Europäischer Teil von Russland
|
80,0
|
142,6
|
62,6
|
Deutsches Kaiserreich |
41,1
|
64,9
|
23,8
|
Großbritannien
| 26,6 | 42,1 | 15,5 |
Österreich-Ungarn
| 35,8 | 49,5 | 13,7 |
Italien
| 26,8 | 34,7 | 7,9 |
Frankreich (ohne Elsass-Moselle)
| 36,1 | 39,6 | 3,5 |
Spanien
| 16,0 | 19,2 | 3,2 |
Die relative Zurückstufung Frankreichs, das 1911 zurückgeschlagen hinter dem deutschen Kaiserreich, Großbritannien und Österreich-Ungarn steht, und die allesamt Anfang 1860 eine deutlich geringere Bevölkerungsdichte als Frankreich hatten, ist bedingt durch die schwache Geburtenziffer. Sie wiederum ist die Folge einer langen Entwicklung, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts durch einen Rückgang der Geburtenrate ihren Anfang nahm. In den großen Nachbarländern trat dieser Effekt erst ein Jahrhundert später auf. Diese Entwicklung wurde während der französischen Revolution beschleunigt und setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort.
Dieses Bild erschien im Almanach Hachette im Jahr 1908 und zeigt die wahre Schwäche.
Quelle: Dokument des Autors.
Zwischen 1911 und 1913 werden in Frankreich durchschnittlich 780.000 Geburten registriert, von denen nur 746.000 Kinder überlebten. Die Geburtenrate liegt somit bei 18,8 Geburten pro 1.000 Einwohner und ist die niedrigste in Europa. In Ost- und Südeuropa sind es 32 Geburten auf 1.000 Einwohner und in Mitteleuropa 30 Geburten pro 1.000 Einwohner.
In Frankreich nimmt die Anzahl der kinderreichen Familien jährlich weiter ab. Im Jahr 1911 werden 11.696.000 Familien gezählt, von denen über die Hälfte 1 bis 2 Kinder hat. Familien mit 3 bis 5 Kindern machen weniger als ein Drittel (27%) aus und die Anzahl der Familien mit 5 Kindern liegt unter 10%.
Die Heiratsziffer hingegen liegt vor dem Krieg 1914 bis 1918 in Frankreich bei 15,6 Eheschließungen pro 1.000 Einwohner. Diese Zahl ist vergleichbar mit anderen großen europäischen Ländern. Wenn man von den Problemen der Kriegszeiten absieht, bleibt dieses Niveau im Laufe des 19. Jahrhunderts unverändert.
Dieses Bild erschien im Almanach Hachette im Jahr 1908
und zeigt, dass die Geburtenrate im 19. Jahrhundert bis zum Vortag des Kriegsausbruchs im Jahr 1914 in Frankreich nicht rückläufig war.
Der Anstieg an Eheschließungen entspricht den Zahlen der Bevölkerungszunahme.
Quelle: Dokument des Autors.
Die schwache Geburtenrate in Frankreich kann durch die Sterblichkeitsrate, insbesondere bei Männern, nicht kompensiert werden. Sie liegt deutlich über der Rate von Deutschland, Großbritannien und Nordwesteuropa. Dennoch entspricht die Sterblichkeitsrate bei Kindern, obwohl sie hoch ist (108 verstorbene Kinder jünger als ein Jahr pro 1.000 Geburten in den Jahren 1912 und 1913), dem europäischen Durchschnitt.
Unter diesen Voraussetzungen entspricht die Sterblichkeitsrate nahezu der Geburtenrate. In den Jahren 1911 bis 1913 beträgt die Anzahl der Verstorbenen 723.3007. Im Zeitraum 1890 bis 1913 hingegen gab es in sieben Jahren mehr Tote als Neugeborene. Zu den sieben Jahren des Bevölkerungsrückgangs8 zählen 1890, 1891, 1892, 1895, 1900, 1907 und 1911. In diesem Jahr wurden über 33.000 Tote in Folge eines sehr heißen Sommers gezählt. Die Anzahl verstorbener Kinder unter einem Jahr betrug 116.600, während in den Vorjahren nur 80.000 solcher Todesfälle registriert wurden. André Armengaud schreibt: “Eine solch hohe Anzahl an Todesfällen haben wir noch nie erreicht, weder in Zeiten von Krieg, Hungersnot oder Epidemien”9.
1913 hingegen, das letzte Jahr in Friedenszeiten, wurde in Frankreich kein Bevölkerungsrückgang verzeichnet, was die folgenden demografischen Zahlen unterstreichen: 298.750 Eheschließungen, 745.539 Lebendgeburten, 703.638 Todesfälle, davon mehr als 41.901, die eines natürlichen Todes starben. Dennoch liegt Frankreich mit diesen Zahlen weit abgeschlagen in Europa.
Bevölkerungszahlen in den wichtigsten europäischen Ländern im Jahr 1912:
Land |
Geburten
|
Todesfälle
|
Natürliches Wachstum
|
Deutschland
|
1 869 635
|
1 029 749
|
839 887
|
Österreich-Ungarn
|
1 670 160
|
1 086 227
|
583 933
|
Italien
| 1 133 985 | 635 788 | 498 197 |
Großbritannien
| 1 096 518 | 631 491 | 465 027 |
Spanien
| 637 901 | 426 269 | 211 632 |
Frankreich
| 750 651 | 692 740 | 57 911 |
Diese Ausgangslage und die Sorge um die Senkung der Sterblichkeitsrate, insbesondere von Kindern und Frauen während der Entbindung, führen dazu, dass sich in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts Menschen aus verschiedenen Bereichen dafür einsetzen, den Kampf gegen den Bevölkerungsrückgang aufzunehmen. So setzt sich 1896 auch die Alliance Nationale für einen Zuwachs der französischen Bevölkerung ein. Zu den Gründern zählen Jacques Bertillon, Mediziner und Statistiker, sowie Charles Richet, Nobelpreisträger der Medizin, und sie werden unterstützt von zahlreichen bekannten Persönlichkeiten wie z. B. Emile Zola. Sie arbeitet in einer gemeinnützigen Organisation, deren Vorsitz 1913 Präsident Poincaré übernimmt.
Ein überaltetes Frankreich in einem jungen Europa
Am Vortag vor Kriegsausbruch im Jahre 1914 weisen die Bevölkerungszahlen in Frankreich einen weiteren ungünstigen demografischen Faktor auf: Eine sehr hohe Altersstruktur.
Auf 1.000 Einwohner kommen in Frankreich nur 339 junge Menschen unter 20 Jahren11. In Deutschland sind es vergleichsweise 437 und in Russland 487. Die Anzahl der Menschen älter als 60 Jahre beträgt 126, während es in Deutschland 79 und in Russland 70 sind.
Frankreich ist das Land Europas mit der höchsten Altersstruktur:
Jünger als 15 Jahre
|
15 bis 59 Jahre
|
60 Jahre und älter
| Gesamt | |
Deutschland
|
34,3 %
|
57,6 %
|
8,1 %
| 100,0 % |
Frankreich
|
25,5 %
|
62,6 %
|
11,9 %
| 100,0% |
England
| 33,0 % | 58,7 % | 8,3 % | 100,0 % |
Zu diesen Fakten kommen in Frankreich zwei weitere Besonderheiten hinzu: Eine schwache Emigration und eine frühe und beträchtliche Immigration. Zwischen 1871 und 1914 verzeichnen die anderen europäischen Länder allesamt eine starke Emigration: Beispielsweise emigrieren nahezu drei Millionen Deutsche insbesondere nach Nord- und Südamerika. Im selben Zeitraum verlassen ungefähr eine halbe Million Franzosen ihr Heimatland, die meisten zeitlich begrenzt, wie z. B. die Barcelonnetter und die Basken in Richtung Amerika.
Frankreich hingegen wird bald ein Immigrationsland. Zwischen 1905 und 1911 nimmt der Anteil der ausländischen Bevölkerung jährlich um durchschnittlich 2% zu. 1911 wohnen in Frankreich 1.160.000 Ausländer, die somit 2,86% der Gesamtbevölkerung ausmachen12. Hierzu zählen in absteigender Zahl Italiener, Belgier, Spanier, Briten, Russen.
Die demografische Schwäche Frankreichs und der auf drei Jahre verlängerte Wehrdienst
Die demografische Schwäche Frankreichs war sicherlich ein wichtiger Faktor in der Entstehung des Konflikts. Das junge Deutschland mit 67 Millionen Einwohnern ging davon aus, dass es mit dem veralteten Frankreich und seinen 39 Millionen Einwohnern ein leichtes Spiel hätte.
Im Jahr 1913 ist es jedoch genau diese Schwäche13, die die französische Regierung dazu veranlasst, den Vorschlag von General Joffre, seit 1911 im Dienst der französischen Armee, die Wehrpflicht auf drei Jahre zu verlängern, zu prüfen. Unterstützt vom Ratspräsidenten Louis Barthou, dem Kriegsminister Eugène Etienne und dem Präsidenten der Republik, Raymond Poincaré wird dieser unpopuläre Vorschlag am 19. Juli 1913 von der Abgeordnetenkammer bewilligt. Am 7. August 1913 folgt dann die Zustimmung des Senats.
Joseph Joffre, 1911 zum General der französischen Armee ernannt, schlägt das 3-Jahres-Gesetz vor.
Raymond Poincaré, Präsident der Republik vom 18. Februar 1913 bis zum 18. Februar 1920 unterstützt die Abstimmung über das 3-Jahres-Gesetz.
In einem Zeitalter, in dem die großen Bataillone auf den Schlachtplätzen kämpfen, entscheidet das Parlament, dass die jungen Franzosen beginnend im Jahr 1913 einen dreijährigen Militärdienst ableisten müssen. Frankreich soll eine Armee bekommen, die den Soldaten Deutschlands die Stirn bieten kann. Diese Bemühungen können jedoch ab 1915 eine Krise nicht abwenden. Die Truppen werden nur teilweise durch die Kolonialtruppen unterstützt und das größte Problem stellt der unglaubliche Anstieg der englischen Truppen dar, die sich 1915 mit Italien und 1917 mit den USA verbünden.
Obwohl Deutschland in den Kriegsjahren 1914-1918 schwere Verluste erlitten hat, kann das Land aufgrund seiner demografischen Situation den Schaden und die Ausfälle besser ausgleichen. Die Truppenstärke ist immer noch doppelt so hoch wie die Frankreichs, was sich beim erneuten Zusammentreffen in den Jahren 1939-1945 erneut beweist14.
Die demografische Lage in Frankreich, die sich nach dem Krieg von 1914 - 1918 dramatisch verschlechtert hat, nachdem im Krieg 1.350.000 Männer gestorben sind, ist sicherlich ein Grund für die unmittelbaren Folgen im Jahr 1940. Es fehlen nicht nur Soldaten, sondern auch Arbeitskräfte, ganz abgesehen von den indirekten Folgen wie wirtschaftliche Müdigkeit, Angst, Außenpolitik und eine zögerliche Strategie.
1. Dumont, Gérard-François, La population de la France, Paris, Ellipses, 2000.
2. Unter Berücksichtigung des Grenzwerts von 5.000 agglomerierten Einwohnern.
3. Bardet, Jean-Pierre, “La France en déclin”, in: Histoire des populations de l'Europe, Tome II, Kapitel IX, Paris, Fayard, 1998. Tabelle 1 stammt von Seite 294 dieses Buchs.
4. Als klar war, dass der Krieg noch lang andauern wird und eine industrielle Mobilisierung von Nöten war, wurden die Facharbeiter schnell zurückgerufen.
5. Nachdem Frankreich alle fünf Jahre eine Volkszählung durchführt, enden die Jahre mit 1 und 6, wobei das letzte Jahr vor Kriegsausbruch 1911 ist.
6. Zu diesem Zeitpunkt lag die Bevölkerungsanzahl in Elsass-Lothringen bei 1,6 Millionen Einwohnern. Ausgehend von den heutigen Grenzen, zählte die Bevölkerung in Frankreich 41,2 Millionen Einwohner.
7. An den Grenzen von 1871, siehe Armengaud, André, La population française au XIXe siècle, Paris, PUF, Que sais-je ?, Nr. 1167, 1967, S. 48. Diese beachtliche Zahl, die deutlich über den Zahlen von 2010 liegt, zeigt die hohe Sterblichkeitsrate in einem Zeitalter, wo die Lebenserwartung bei 51 Jahren lag.
8. Der Bevölkerungsrückgang zeigt, dass die Sterblichkeitsrate höher ist als die Geburtenrate; Entvölkerung bedeutet einen Rückgang der Bevölkerung.
9. Armengaud, André, La population française au XIXe siècle, Paris, PUF, Que sais-je ?, n° 1167, 1967, p. 51.
10. Die Vereinigung Population & Avenir ist der heutige Nachfolger.
11. Dupâquier, Jacques (direction), Histoire de la population française, Tome 3, Paris, PUF, 1988, p. 506.
12. Id., p. 216.
13. Und der Anstieg der deutschen Truppenstärke in den Jahren 1911 und 1912.
14. siehe auch Beaupré, Nicolas, 1914-1945 Les grandes guerres, Paris, Belin, 2012.