Den Großen Krieg unterrichten und weitergeben
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Gespräch mit Rainer Bendick - Doktor der Geschichte und Geschichtslehrer und Alexandre Lafon - Doktor der Zeitgeschichte
Rainer Bendick hat eine Dissertation über die Darstellung des Ersten Weltkriegs in deutschen und französischen Schulbüchern verfasst. Seit 2018 ist er pädagogischer Berater beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDMF) in der Region Braunschweig. Alexandre Lafon, ehemaliger pädagogischer Berater der Mission du centenaire de la Première Guerre mondiale (Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs), ist heute Lehrer an einem Gymnasium und Gastforscher an der Universität Toulouse Jean Jaurès.
Links, Rainer Bendick, Doktor der Geschichte. Rechts, Alexandre Lafon, Doktor der Zeitgeschichte
Auf welche Weise wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg oder Großen Krieg gelehrt und an das Schulpublikum weitergegeben?
Rainer Bendick (RB) : Die Bezeichnung „Großer Krieg" ist in Deutschland unbekannt. Wenn es für die Deutschen heute einen „Großen Krieg" gibt, dann ist es der Zweite Weltkrieg. Dennoch ist der Erste Weltkrieg in den Lehrplänen der 16 Bundesländer enthalten. In der Mittelstufe ist das Thema immer noch Teil des Kapitels mit dem Titel „Imperialismus und Erster Weltkrieg". In Bayern etwa ist vorgesehen, von den 56 Stunden, die in der achten Klasse für den Geschichtsunterricht zur Verfügung stehen, 13 Stunden dafür zu verwenden. Die Ursachen des Krieges sind untrennbar mit dem Erforschen des Krieges verbunden. Sie sind sogar genauso wichtig wie der Krieg selbst. Die internationalen Spannungen vor 1914 und die Julikrise werden als Niederlage des Friedens, als fatales Versagen der Politik, als wahnwitziger Sieg von Nationalismus und Militarismus gelehrt. Militärische Aktionen nehmen in diesen didaktischen Szenarien nur einen begrenzten Platz ein. Die immensen Zerstörungen durch die Materialschlachten und die Verluste an Menschenleben werden jedoch immer wieder thematisiert. Ein weiterer Schwerpunkt gilt dem Geschehen hinter den Kulissen: der Kriegsproduktion und vor allem dem Elend, der Not und dem Hunger der Zivilbevölkerung.
Alexandre Lafon (AL) : Der Erste Weltkrieg, der auch als Großer Krieg bezeichnet wird, umfasst in Frankreich alle Jahrgangsstufen des Schulunterrichts. Die Schüler werden in der fünften Klasse und später in der neunten Klasse mit dem Thema vertraut gemacht. In der Oberstufe wird der Erste Weltkrieg in der elften Klasse unterrichtet. Die Lehrpläne unterstreichen den Begriff des totalen und massenhaften Krieges, sowohl hinter der Front (Streiks 1917) als auch an der Front. Der Grabenkrieg und der Völkermord an den Armeniern eignen sich dann als wichtige Einblicke in der neunten Klasse. Das Studium von Karten ermöglicht es, die Folgen anhand des Begriffs „Selbstmord Europas" in der elften Klasse zu ermessen, wo auch die internationalisierte Schlacht an der Somme auftaucht. Bemerkenswert ist die Aufnahme des Konflikts in den neuen fachspezifischen Unterricht „Geschichte-Geografie, Geopolitik und Politikwissenschaft" in der Abschlussklasse. Thema 3 mit dem Titel „Geschichte und Erinnerungen" regt an, die Ursachen des Ersten Weltkriegs als historische Debatte und ihre politischen Implikationen zu behandeln. Diese Neuerung ermöglicht es, neben einer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Geschichte und Erinnerungen auch zu zeigen, wie sehr die Geschichte zum Gegenstand von Debatten werden kann, die unsere Interpretation der Welt und unseren politischen Horizont des „Zusammenlebens" mit einbeziehen. In diesem Punkt und im Rahmen dieses Unterrichts kann die Konfrontation mit den deutschen Erinnerungen an den Krieg sehr wertvoll sein.
Jugendliche besuchen die Gedenkstätte in Verdun. © Gedenkstätte von Verdun
Gibt es in Frankreich und Deutschland Ereignisse, Orte und/oder Namen, die mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht werden und deren Erinnerung heute für die junge Generation wichtig ist?
RB : Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, da die militärischen Aktionen so gut wie nicht auf deutschem Boden stattgefunden haben. Außerdem sind die Orte, an denen gekämpft wurde, in Ostpreußen und im Elsass, heute nicht mehr Teil der Bundesrepublik Deutschland. Im Gegensatz zu den damaligen Zeitgenossen ist die Ostfront heute fast vollständig aus der Erinnerung verschwunden. Diese konzentriert sich heute auf die Westfront, ihre Materialschlachten und die immensen Zerstörungen, für die Verdun und die Somme symbolisch stehen. Die Namen dieser Schlachten tauchen in allen Lehrbüchern auf. Fotos von Soldaten in Schützengräben, Schlamm und Elend sowie Briefe vermitteln den Schrecken des Krieges. Arbeitsaufträge wie „Schreibe einen Zeitungsartikel zum Thema: Die Folgen, die der moderne Krieg für die Menschen hat" oder „Erstelle eine Collage zum Thema Kriegsschrecken" oder „Entwirf in Gruppenarbeit ein Plakat gegen die Fortsetzung des Krieges aus der Sicht der heutigen Zeit" - lassen keinen Raum für das Heldentum der Kämpfer. Ihre Handlungen erscheinen als destruktiv, da sie keine rationale und plausible Begründung haben.
AL : Im Gegensatz zu Deutschland war Frankreich zwischen 1914 und 1918 der Hauptschauplatz der militärischen Operationen an der Westfront. Dabei sei daran erinnert, dass 10 französische Departements überfallen, besetzt oder annektiert wurden. Die Orte der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sind daher zahlreich. Der 11. November bleibt ein wichtiges Gedenkdatum, wobei die kommunalen Kriegsdenkmäler jedes Jahr als Sammelpunkt dieses kollektiven Gedenkens dienen. Auf nationaler oder sogar globaler Ebene wurden die wichtigsten Schlachtfelder in das allgemeine Kulturerbe aufgenommen. Ein Projekt zur weltweiten Erschließung der Landschaften des Großen Krieges (UNESCO) unterstützt diese Entwicklung.
Es überrascht nicht, dass Verdun als erste Gedenkstätte des Großen Krieges auftaucht. Die 2016 restaurierte Gedenkstätte und das Beinhaus von Douaumont verdeutlichen für sich allein die Erinnerung an den Konflikt: die Kämpfe, den Tod und die Trauer, wohingegen das Weltfriedenszentrum Verdun versucht, die Schlacht von Verdun in eine globalisierte Friedensproblematik einzubetten. Die Schlacht an der Marne oder die Stätte Notre-Dame-de-Lorette und ihr „Internationaler Ring der Erinnerung" wurden anlässlich der Hundertjahrfeier neu belebt. Der Chemin des dames (Aisne) ist der Ort, der seit einigen Jahren von einer Wiederbelebung des Gedenkens rund um die Opferfigur des Meuterers oder des Erschossenen profitiert. Dies zeugt zweifellos von einem Wandel des Gedenkens weg vom heldenhaften „Poilu" und hin zum geopferten Soldaten. Die Figur des Maurice Genevoix, der 2020 pantheonisiert wurde, komprimierte diese beiden Facetten und wurde zum „großen Zeugen" des Konflikts und mit ihm Ceux de 14 (Die von 14). Dieses literarische Werk wird in den kommenden Jahren zweifellos häufiger im Unterricht verwendet werden. Die Erinnerung an die großen Führer, Generäle und Marschälle wird heute weniger gelehrt, auch wenn Joffre oder Pétain (der von Verdun) in den Schulbüchern weiterhin präsent sind.
Warum ist es mehr als hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs immer noch wichtig, den jüngeren Menschen diesen Konflikt zu vermitteln? Welche Herausforderungen stehen hinter der Weitergabe und Erarbeitung dieser Erinnerung?
RB : Georges Kenans Bild ist etwas veraltet, aber dennoch zutiefst wahr: Der Erste Weltkrieg ist the great seminal catastrophe „die große Anfangskatastrophe", die wesentlich ist, um die europäische Geschichte nach 1918 zu verstehen, um die lange verborgenen, aber nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ausgebrochenen Konflikte zu erfassen und um uns vor der Gefahr des Nationalismus und einer Politik zu warnen, die voller guter Absichten glaubt, internationale Spannungen dauerhaft mit militärischen Mitteln lösen zu können. Diese trügerisch vielversprechende Logik des Krieges inspirierte unsere Vorfahren in Frankreich wie in Deutschland und zerstörte unseren Kontinent. Es gibt kein stärkeres Argument für den Aufbau Europas als die Geschichte des Ersten Weltkriegs.
Die Northeimer Bezirksbürgermeisterin Frau Klinkert-Kittel enthüllt eine Erläuterungstafel, die Schülerinnen und Schüler
des Gymnasiums Bad Gandersheim gestaltet haben. © Rainer Bendick
AL : Die Herausforderung der Wissensvermittlung scheint mir eine doppelte zu sein: Einerseits sind die jüngeren Generationen Hüter eines Erinnerungserbes, das im Frankreich des Jahres 2021 noch sehr ausgeprägt ist. Der Große Krieg ist immer noch überall präsent und wird oft thematisiert. Um freie und aufgeklärte Bürger werden zu können, müssen die Schüler in der Lage sein, die historischen und politischen Bezüge dieses Konflikts zu verstehen und auch seine Tragweite zu begreifen. Es war wohl in den Schützengräben, wo die Republik als Gesellschaftsvertrag erprobt wurde oder die europäische Idee geboren wurde. Andererseits geht es bei der Vermittlung um Krieg und Frieden: Wie Rainer Bendick ausführt, muss man sich vor einer Faszination für den „Großen Krieg" hüten, der auch eine große materielle, demografische, soziale und politische Katastrophe war. Die Folgen des Konflikts waren verheerend. Wir sollten uns davor hüten, zu glauben, dass Krieg eine Lösung ist. Das friedliche Europa, dem sich Lehrer in ihrem Unterricht stärker widmen könnten, zeigt, dass der friedliche Weg der beste ist.
Wie kann man jüngere Menschen interessieren und sensibilisieren, wenn die Spuren verschwinden und das leibhaftige Gedächtnis nicht mehr vorhanden ist?
RB : Die Spuren sind immer noch vorhanden, und was für Spuren! Davon zeugen die Schlachtfelder in Frankreich und Belgien mit ihren außergewöhnlichen Museen und vor allem die Soldatenfriedhöfe. Diese sind neben den Kriegerdenkmälern die einzigen Spuren des Ersten Weltkriegs, die es heute in Deutschland gibt und die zur Durchführung vielversprechender Projekte ermutigen. Alle deutschen Gemeinden haben ein Kriegerdenkmal, das während der 1920er Jahre errichtet wurde und oft von Rachegedanken zeugt. Deshalb scheinen sie wie aus einer anderen Zeit zu stammen. Sie sind von echtem didaktischem Interesse, da sie es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, die Spuren des Kriegs bei sich zu Hause, in ihrer Nachbarschaft, aufzuspüren. So erfahren die Jugendlichen, was der Krieg mit den Menschen gemacht hat, mit denen, die auf den Schlachtfeldern starben oder die ohne Vater, Sohn oder Ehemann dastanden. Außerdem haben die meisten deutschen Städte einen Soldatenfriedhof, da sie früher über ein Militärkrankenhaus und somit über ein Militärfeld auf ihrem Friedhof verfügten. Die Dienststelle für die Pflege deutscher Soldatengräber (SESMA), eine Zweigstelle des VDK für Frankreich und Belgien, führt Schulprojekte zu diesen Gräbern durch. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit der Geschichte und der Erinnerung an den Ort sowie mit dem Schicksal der Toten. Sie erstellen Schautafeln, um die Besucher zu informieren, und werden auf diese Weise zu „Geschichtsvermittlern" ihrer Gemeinde.
Noch beeindruckender sind die Klassenfahrten in den Nordosten Frankreichs. Der Besuch großer Nekropolen lässt keinen Schüler unbeeindruckt und eröffnet viele pädagogische Möglichkeiten. Schließlich sind die Jugendbegegnungen zu erwähnen, die die SESMA jedes Jahr zum Thema Soldatenfriedhöfe in Europa organisiert. Sie sind eine einzigartige Gelegenheit für diese heranwachsenden Bürger, ihre gemeinsame Geschichte zu entdecken und sie vor dem Wahnsinn des Kriegs zu warnen.
AL : Es ist eine große Herausforderung, die jüngeren Generationen für einen Konflikt zu interessieren, der mehr als hundert Jahre zurückliegt und für den es keine direkten Zeitzeugen mehr gibt, die die Erinnerung daran weitergeben (Lazare Ponticelli, der letzte „Poilu", ist 2008 verstorben). Dennoch genießt der Erste Weltkrieg in unserem Land noch immer eine unglaublich starke Präsenz, die jedes Jahr bei den Gedenkfeiern zum 11. November wiederbelebt wird, der auch weiterhin ein Schlüsseldatum in unserem Erinnerungskalender ist. Er wird regelmäßig im politischen oder sozialen Kontext aufgegriffen: Man denke nur an die martialische Ansprache des Staatspräsidenten anlässlich des ersten Lockdowns im März 2020, mit der er unsere Landsleute an den Krieg von 14-18 erinnerte. Diese Präsenz der Erinnerung an den Krieg ist grundlegend und sorgt für eine kontinuierliche Überlieferung des Konflikts. Sie beruht auf einer Reihe von Spuren und Zeichen, die unsere physischen und sozialen Gebiete durchziehen: kommunale Kriegerdenkmäler, die noch immer im Zentrum der Städte und Dörfer stehen, große Gedenkstätten sowie die erhaltenen und mediatisierten Kriegslandschaften im Norden und Osten Frankreichs, Museen und Interpretationszentren in ganz Frankreich, die Gegenstände oder lokale Geschichten des Krieges besonders hervorheben, und schließlich die großen und kleinen Nekropolen oder Soldatengräber, die noch heute von der starken Trauer zeugen, die Familien und Gemeinschaften traf. All diese Elemente, die durch das Familiengedenken, lokale Historiker und nationale Institutionen gepflegt werden, tragen dazu bei, dass der Große Krieg eine starke zeitgenössische Präsenz beibehält. Die Lehrpläne der Schulen, die auf einen durch 14-18 geprägten Unterricht ausgerichtet sind, zeugen vom Bestreben zur ständigen Vermittlung des Ereignisses, das sich auf die unmittelbaren Lebensräume der Schüler konzentriert.
Auszeichnung „Coup de coeur" für die Klasse CM1/CM2 (Frau Amandine Luquet) der Schule Raymond Aubert in Belfort,
14. Ausgabe des Wettbewerbs „Petits artistes de la mémoire" (Kleine Gedenkkünstler) (2019-2020). © ONAC-VG – École R. Aubert (Belfort)
Der Wettbewerb „Petits artistes de la mémoire", der seit 2006 vom Office national des Anciens combattants et victimes de guerre (ONAC-VG) angeboten wird, fördert diese Weitergabe, indem er alle wichtigen Komponenten bereitstellt: ein enthülltes lokales Zeitzeugnis, eine fächerübergreifende Betrachtung, eine Feldforschung und eine künstlerische Umsetzung, die das Engagement der Schülerinnen und Schüler aufwertet und ihre Schulerfahrung prägt.
Wie können Frankreich und Deutschland gemeinsam an der Vermittlung einer gemeinsamen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg arbeiten?
RB : Vor allem müssen wir verstehen, dass sich die Erinnerung des anderen von unserer eigenen unterscheidet. Der Krieg selbst verursacht heute zwar keine Unterschiede mehr zwischen uns, doch die Art und Weise, wie wir seiner gedenken und ihn lehren, führt zu Missverständnissen. Ein anschauliches Beispiel ist der Kommentar einer Deutschen, der im Jahr 2018 im Besucherbuch des Geschichtsmuseums von Péronne hinterlassen wurde: „Es ist sehr schade, dass dieses beeindruckende, sehr informative und gut gemachte Museum einen Shop hat, in dem man alles kaufen kann, was das kriegerische Denken beflügelt. Im Jahr 2018 sollte es so etwas nicht mehr geben". Die Verfasserin dieser Zeilen stieß sich an den militärischen Spielereien (Stahlhelme aus Plastik, kleine Soldaten in Uniformen aus der Zeit usw.), die im Shop des Geschichtsmuseums zum Verkauf angeboten wurden. Sie war der Meinung, dass diese Dinge der Botschaft des Museums widersprechen würden, die zu einer versöhnlichen und pazifistischen Erinnerung auffordert. Sie beurteilte diesen Verkaufsraum, ohne den Stellenwert des Militärs in Frankreich und das eher positive Image der Armee (als Beschützer der Republik) zu berücksichtigen, indem sie die in Deutschland üblichen Maßstäbe ansetzte, insbesondere die Distanz zum Militär.
Eine französische Schülerin aus Gap arbeitet an einer Karikatur, die im Museum in Osnabrück verwahrt wird. © Collège Centre, Gap
Binationale Projekte, in denen Lehrer und Schüler aus unseren beiden Ländern zusammenarbeiten, wie das Projekt „Der Blick des Anderen", wirken solchen Missverständnissen entgegen. Mithilfe des Internets haben Schüler aus Osnabrück und Gap einen Fundus an deutschen und französischen Karikaturen im Osnabrücker Museum bearbeitet, woraus eine deutsch-französische Ausstellung entstand, die online eingesehen werden kann (Anm. d. Red., siehe am Ende der Ausgabe). Als Mitverantwortlicher für das deutsch-französische Lehrbuch konnte ich außerdem vorschlagen, dass gemischte Teams gebildet werden, um unsere nationalen Lehrbücher und Lehrpläne zu verfassen. Auf diese Weise werden wir für die Ansätze des anderen sensibilisiert und können unsere eigenen besser relativieren.
Jugendliche nehmen an der Zeremonie zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands unter dem Triumphbogen teil, 11. November 2018.
© Benoit Tessier/Pool/AFP
AL : Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag haben insbesondere auf Seiten der Jugend gezeigt, wie groß die Kluft zwischen den Erwartungen an das Gedenken in Frankreich und in Deutschland sein kann. Die Missverständnisse, die sich anlässlich des Programms „4.000 Jugendliche in Verdun" im Jahr 2016 angesammelt hatten, zeugen von diesen Unstimmigkeiten: Die deutschen Lehrer erwarteten eine Infragestellung des Kriegsgedankens, wohingegen die französischen Lehrer für ihre Schüler eine bessere Kenntnis der bedeutenden Gedenkstätte Verdun anstrebten. Die Mythisierung des Großen Krieges und die in Frankreich noch zu stark ausgeprägte Aufforderung zur „Gedenkpflicht" bremsen eine gemeinsame deutsch-französische Auseinandersetzung mit den aktuellen Konflikten.
Dennoch wurden während der Hundertjahrfeier vielversprechende Ansatzpunkte verfolgt. Deutsch-französische Tandems, die im Rahmen des Programms „4.000 Jugendliche für Verdun" zusammenarbeiten, haben bemerkenswerte Arbeiten vorgelegt, die durch die Aktion des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) unterstützt wurden. Auf redaktionellem Gebiet hat das deutsch-französische Kriegsalbum, das von Historikern und Kuratoren aus beiden Ländern erstellt wurde und auf der Website des Deutschen Historischen Instituts verfügbar ist, eine wechselseitige Forschung ermöglicht und mediatisiert. In dieser Richtung müssen wir weitermachen, indem wir mehr pädagogische oder wissenschaftliche Projekte durchführen, die unsere Unterschiede und mögliche Berührungspunkte hinterfragen: Gemeinsam die großen Gedenkfeiern vorbereiten, die Geschichte und das Gedenken an die dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in beiden Ländern besser kennenlernen, die Art und Weise, wie man heute unsere Gebiete, Europa und die Welt wahrnimmt, noch besser miteinander teilen.
Ein Kommentar im Besucherbuch des Geschichtsmuseums Péronne, der die Missverständnisse sehr gut veranschaulicht
und denen man durch das Bewusstmachen der jeweiligen Sichtweise des anderen entgegenwirken muss. © Rainer Bendick
Ist Deutschland Ihrer Meinung nach ausreichend engagiert, um die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg an die heranwachsende Generation weiterzugeben? Wie soll man sich mit der Geschichte und der Erinnerung an eine „Niederlage" auseinandersetzen?
RB : Aus französischer Sicht wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland eher vernachlässigt. Man muss sich jedoch vor Augen führen, wie sich die Nazi-Diktatur ausgewirkt hat, um die untergeordnete Rolle zu verstehen, die der Erste Weltkrieg spielt. Darüber hinaus identifiziert sich die Bundesrepublik nicht mit dem Kaiserreich. Sie versteht sich als demokratisches Gegenmodell. Die Niederlage von 1918 wird nicht als „unsere Niederlage" gelehrt, sondern als die Niederlage des Kaiserreichs. So taucht die „Dolchstoßlegende" (bei der die Schuld an der Niederlage von 1918 der Zivilbevölkerung und nicht der deutschen Armee zugeschrieben wird) in allen Lehrplänen und Schulbüchern auf. Die Destabilisierung der Weimarer Republik, die dadurch ausgelöst wurde, ist im Unterricht durchaus präsent. Ich sehe darin jedoch eine Gefahr, denn 1918 in die gleiche Perspektive wie 1933 zu stellen, wäre eine gewaltige moralische Entlastung für diejenigen, die die Demokratie zerstört haben. Die große Wirtschafts- und Finanzkrise Anfang der 1930er Jahre, 6 Millionen Arbeitslose, soziales Elend und vor allem das Fehlen einer langen republikanischen und demokratischen Tradition in Deutschland waren für die Machtergreifung Hitlers weitaus entscheidender als die Niederlage und die Friedensregelungen.
Wie kann man in Frankreich die Dynamik aufrechterhalten, die die Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs insbesondere bei dem jüngeren Publikum ausgelöst hat?
AL : Die pädagogische Bilanz der Hundertjahrfeier, die im März 2019 in Bordeaux in Anwesenheit sämtlicher an der Dynamik der Weitergabe an junge Menschen beteiligten Akteure vorgestellt wurde, zeigte, wie sehr sich die Schule und ihre Partner für eine tiefgreifende Erinnerungsarbeit in Richtung der Schüler eingesetzt hatten. Diese basierte auf dem Engagement der Schülerinnen und Schüler bei der Gestaltung von pädagogischen Projekten zum Thema Gedenken und Geschichte. Es ging darum, sie als Akteure einzubeziehen: sowohl bei der Ausarbeitung von Materialien für die Denkanstöße oder der Wiederherstellung der Gedenkarbeit; als auch bei der Organisation der wichtigsten Gedenkfeiern. Diese Dynamik stützte sich auf Vorschläge für Vergleiche der nationalen oder internationalen Erinnerungen, auf solide Synergien zwischen den verschiedenen Akteuren, die sich auf allen Ebenen mit der Erinnerung an gegenwärtige Konflikte befassen, und auf die uneingeschränkte Förderung von Schulprojekten. Die Dynamik kann unter Beibehaltung dieser Grundbewegung fortgesetzt werden: Zusammenbringen der Akteure des Gedenkens (Bildung, Armeen, Vereine, Gebietskörperschaften), Bereitstellung eines klaren pädagogischen Rahmens, der Schüler und Lehrkräfte in konkrete „sinnvolle" Projekte einbindet, Aufwertung der pädagogischen Arbeit. Nicht nur als Vorwand, sondern als Schlüsselelement einer selbstbewussten Gedenkpolitik. Bei zu vielen Gedenkveranstaltungen werden „junge Menschen" in die „Pflicht zur Erinnerung" eingebunden, ohne ihrem Engagement wirklich einen Sinn zu geben.