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Der künstlerische Blick: Sophie Zénon

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Après un rêve (Pour Vivre ici). Fine Art Print 45 x 30 cm. Detail eines Polyptychons aus 15 Fotografien. © S. Zénon

Die Fotografin und bildende Künstlerin Sophie Zénon befasst sich mit der Frage der Wiedergabe des Gedenkens am Hartmannswillerkopf (HWK), einer Kampfstätte des Ersten Weltkriegs, dessen Besonderheit seine Frontlinie an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland ist. 2017 wurde sie in die Künstlerresidenz des Abri-mémoire in Uffholtz aufgenommen. Diese ist ein Raum mit pädagogischer und sozialer Ausrichtung, in dem sie eine kreative Arbeit durchgeführt und einen pädagogischen Workshop betreut hat.

Corps 1

Sophie Zénon © www.sophiezenon.com

Sophie Zénon © www.sophiezenon.com

 

Warum haben Sie beschlossen , am Hartmannswillerkopf zu arbeiten?

 

Mein Vater hat seine Kindheit in den Vogesen verbracht. Er erzählte mir oft vom „Zauber“ der großen Wälder der Vogesen, die ich 2015 entdeckt habe, als ich begann, die Geschichte unserer aus Italien stammenden Familie aufzuarbeiten. Genauer gesagt brachte mich die Einladung des Abri-mémoire von Uffholtz dazu, mich für den HWK zu interessieren. 2013 habe ich das Künstlerbuch „Verdun ses ruines glorieuses“ angefertigt, in dem ich das Thema der deutsch-französischen Versöhnung behandelte. Im Zuge der Dokumentation dieses Buches drängte es sich selbstverständlich auf, dass ich in die Vogesen kam, um diese Arbeit fortzusetzen.

 

Welche künstlerischen Arbeiten haben Sie vor Ort gemacht?

 

Ich habe dem Abri-mémoire eine Interpretation des HWK aus dem Blickwinkel seines wieder aufgeforsteten Waldes angeboten. Dabei versuchte ich, sowohl den „Geist der Orte“ als auch die Art und Weise darzustellen, wie die Menschen heute und früher mit diesem Waldgebiet umzugehen gelernt haben. Wie lebt man heute in den umliegenden Gemeinden mit der Nähe eines Ortes, der mit so vielen Tragödien belastet ist? Und wie konnten die Soldaten in den Jahren 14-18 diese Hölle überleben? Daher habe ich den Titel „Pour vivre ici“ (Um hier zu leben) gewählt.

 

Ich begann, die Förster des ONF zu befragen, um die Entwicklung dieses Waldgebietes zu verstehen. Vor 1914 war es ein großer Tannenwald. 1918 ist die Landschaft verwüstet. Dann, ab den Dreißigerjahren, wuchs der Wald ohne menschliche Eingriffe hauptsächlich mit Laubbäumen nach. Diese Verwandlung hat mich fasziniert. Ich interessierte mich für die Landschaft in verschiedenen Jahreszeiten und habe den HWK in alle Richtungen durchquert. Dabei fertigte ich eine Porträtserie von Bäumen an, die ich im Großformat gedruckt und mit Glasplatten geschützt habe, in welche ich Militärkarten gravierte.

 

Lippische Schweiz (Pour Vivre ici). Tirage fine art et gravure sur verre 80 X 120 cm. Pièce unique. © S. Zénon

Lippische Schweiz (Pour Vivre ici). Fine Art Print und Gravur auf Glas 80 X 120 cm. Einzelstück. © S. Zénon

 

Ich machte mit einer Untersuchung der Toponymie weiter. Die Bezeichnungen der deutschen und französischen Soldaten für die Berge zeigen eine allgemeine Vorstellung, die ich in Form einer riesigen Panoramatapete wiedergab, die aus Postkarten der Jahre vor 1914 und von 1914-1918 besteht. Die Idee bei dieser Arbeit war auch, das regionale Know-how einzusetzen und es in mein eigenes Vorhaben einfließen zu lassen (Manufaktur Rixheim und elässische sowie lothringische Glaskunst).

 

Aus den Archiven des Ressourcenzentrums des Abri-mémoire habe ich Fotos vom täglichen Leben der französischen und deutschen Soldaten ausgewählt, die ich auf Plexiglasplatten gedruckt und dann im Wald aufgestellt habe. Durch das Spiel der Sonnenstrahlen tauchen die Gesichter auf und verschwinden in einer Art Blendung wieder.

 

Entscheidend war mein Treffen mit Raoul Ermel, einem Tischler aus Wattwiller. Sein Zugang zum Wald hat mir eine wunderbare Welt eröffnet. Sein Großvater väterlicherseits war ein Naturliebhaber und früher Soldat im HWK. Er nahm ihn von klein an in die Berge mit. Er kannte jede Parzelle des Waldes. Für ihn sind die Bäume die Verwahrer der Erinnerung an die Soldaten. Am Aussehen der Stämme erkannte er, welche den Krieg erlebt hatten und „sprechen konnten“ und welche „vermutlich nicht umsonst gequält wurden“.

 

Schließlich habe ich Auszüge aus dem Tagebuch des Anwärters Henri Martin, Le Vieil Armand, 1915 (Payot, 1937) wegen seiner literarischen Qualitäten und seiner tiefen Menschlichkeit ausgewählt. Ich habe ein 17-minütiges Video gedreht, in dem sich die Stimmen Raouls und des Soldaten Martin mit Archiven, Fotos und Videos von Bäumen überschneiden.

 

Après un rêve (Pour Vivre ici). Tirage fine art 45 x 30 cm. Détail d’un polyptyque de 15 photographies. © S. Zénon

Après un rêve (Pour Vivre ici). Fine Art Print 45 x 30 cm. Detail eines Polyptychons aus 15 Fotografien. © S. Zénon

 

Während Ihres Aufenthalts im Abri-mémoire bieten Sie einen pädagogischen Workshop an. Wie ist er aufgebaut?

 

Alexandre Dumez, Geschichteprofessor am Gymnasium Wittelsheim und pädagogischer Berater für das Historial HWK, hat mich eingeladen, einen Workshop für seine erste Klasse zu leiten. Ich schlug den Schülern vor, über die Begriffe Grenzen und Identität nachzudenken und an der Erzählung zu arbeiten. Die Schüler begannen zu zweit mit der Anfertigung von Porträts vor Ort. Ich habe Lehrmittel und Diavorträge über Fotografen zusammengestellt, welche die Schlachtenlandschaften fotografiert hatten, über jene, die das Verhältnis zwischen Bild und Text erforscht hatten, wie der chinesische Künstler Gao Bo, der in seiner Arbeit am Tibet mit eigenem Blut auf seine Fotos geschrieben hatte, um die Massaker an den Tibetern anzuprangern.

 

Für diesen Workshop standen den Schülern meine Plexiglassoldaten zur Verfügung, die sie in der Landschaft in Szene setzten. Die 24 Schüler waren in drei Gruppen eingeteilt: eine auf dem Gipfel (wo die Kämpfe am intensivsten waren), eine zweite in der Nähe des Flusses und eine dritte in einem deutschen Schützengraben. Dadurch standen drei Landschaften und drei verschiedene Probleme zur Verfügung. Ich bat sie, einen kurzen Text über ihre Empfindungen zu schreiben. Der Workshop dauerte eine Woche vor Ort und im Klassenzimmer. Am meisten Zeit nahm die Arbeit zur Herstellung der Kompositionen in Anspruch, vorwiegend Triptychen, mit französischen und deutschen Texten, die zusammen ein großes Polyptychon ergaben.

 

Was die Schüler am meisten beeindruckt hat, ist die Jugend der Soldaten. Ihnen wurde bewusst, dass sie an ihrer Stelle hätten sein können. Die Arbeiten wurden bei der Einweihungsfeier des deutsch-französischen Historial HWK im Beisein der französischen und deutschen Präsidenten am 10. November 2017 präsentiert. Ein Moment intensiver Emotionen, der im Gedächtnis der Schüler haften bleiben wird.

 

„Pour vivre ici“ wird bis Dezember 2018 in Beauvais im Rahmen des Festivals „Les Photaumnales“ gezeigt. Im November wird im Verlag LOCO ein Buch erscheinen.