Der Schutzengel der V1
Im Geiste von Hitler sind es die ”V-Waffen”, die dem Kriegsverlauf eine Wende geben müssen. Die Entwicklung und die Bedingungen für den Einsatz dieser Wunderwaffen, für die damalige Zeit eine Revolution, gehörten zu den am besten gehüteten Geheimnissen des Reichs. Für den Schutz dieses Geheimnisses ist ein spezieller Dienst zuständig. Die französischen Geheimdienste gaben ihm den Namen ”Schutzengel” der V1. Die Nutzung der Archive hat nun beigetragen, diese bislang unbekannte Struktur zu enthüllen.
”Der Schutzengel” der V1, wie der Nachrichtendienst der Spionage-Abwehr in Arras im Titel eines Berichts der DGER vom 31. Oktober 1945 genannt wird, wird im historischen Dienst der Verteidigung (SHD) aufbewahrt. Diese etwas abgeschwächte Bezeichnung fasst dennoch perfekt die Sondermission des Ast Arras zwischen Dezember 1943 und der Befreiung des nationalen Territoriums zusammen.
Schutz des Geheimnisses über die ”V-Waffen”
Die Mission des ”Schutzengels” besteht darin, die verschiedenen speziellen Konstruktionen der Nazis zu schützen und zu verteidigen, die in Frankreich während des operativen Einsatzes der neuen Waffen von Hitler, den Vergeltungswaffen (siehe Tonbildschau) eingeführt wurden: die fliegende Bombe V1, die Rakete A4-V2 und die Fernkanone V3. Der ”Schutzengel” der V1 wird schließlich damit beauftragt, die Sicherheit der aus Deutschland kommenden Konvois zu gewährleisten, die verschiedene Abschussorte bedienen sollten. Archive aus erster Hand über diese Strukturen sind äußerst selten. Dieses Dokument wurde basierend auf Befragungen von Agenten durch die DGSN (Direction générale de la sûreté nationale) erstellt. Es zeigt den speziellen Charakter der Abwehr in Arras und gibt mithilfe eines Organigramms einen Überblick über die verschiedenen Kompetenzbereiche. Es handelt sich somit um ein äußerst bedeutendes Archiv, das jedoch auch an seine Grenzen kommt, insbesondere weil es einen wichtigen Teil des in Frankreich installierten Unterdrückungsapparats vernachlässigt.
Ab Herbst 1943 erhalten die Projekte von Hitler, England in die Zange zu nehmen und den Kriegsverlauf zu wenden, oberste Priorität. General Erich Heinemann, Kommandant des 65. deutschen Armeekorps (LXV AK) und zuständig für die Bereitstellung von V-Waffen in Frankreich, verlangt eine drastische Neuorganisation des Schutzsystems. Während seiner Inspektion auf einer Abschussbasis für die V1 muss Heinemann erschrocken feststellen, dass zivile Arbeiter und französische Unternehmen vor Ort tätig sind. Um die Sicherheit zu erhöhen, muss zunächst im Norden Frankreichs eine spezielle Politik der Unterdrückung umgesetzt werden, die dramatische Folgen hat für den nationalen und lokalen Widerstand (siehe Tonbildschau).
”Der Schutzengel”: eine Struktur außerhalb jeglicher Normen
Dieser in Arras errichtete Apparat setzt sich zusammen aus einem Dienst der Spionage-Abwehr (Ast 430), einer eigenen Militärpolizei (die Geheime Feldpolizei 716) sowie einem Sondergericht beim LXV AK. Dieser Apparat ist ausschließlich beauftragt mit dem Schutz aller Abschussstandorte der in Frankreich installierten V-Waffen, ab der Spitze von Cotentin bis zur belgischen Grenze. Außerdem unterstehen diesem Apparat alle anderen deutschen Polizeistellen für diese Art von Angelegenheiten, einschließlich der SIPO-SD. Die Abwehr in Arras führt den von London beauftragten Widerstandsorganisationen hohen Schaden zu. Hiervon betroffen sind: die Bewegung Organisation civile et militaire (OCM), aber auch die Netzwerke Alliance, Cohors-Asturies, Mithridate, Centurie, Jade-Amicol, Claude François oder Zéro-France, das große belgische Netzwerk. Die in Spionageaktivitäten hinsichtlich der V-Waffen verwickelten Widerstandskämpfer werden nach ihrer Befragung vor das Sondergericht des 65. deutschen Armeekorpses gestellt. Dieses Kriegsgericht, das Zug um Zug nach Arras, Lille und Paris verlegt wird, hat seinen Sitz in Belgien und ist insbesondere dafür zuständig, die Geheimhaltung aller Aktivitäten sicherzustellen. Es gibt keinerlei Informationen über die Identität der verurteilten Personen noch über deren Schicksal. Erst nach der Befreiung findet man in Arras, Lille und auf dem Friedhof von Ivry, Region Paris, versteckte Massengräber, die auf den Tod dieser Patrioten hindeuten.
Eine Struktur von bemerkenswerter Effizienz
Die Bilanz ist schrecklich: Während den acht Monaten der Besetzung im Jahr 1944 kommt es zu ungefähr 100 Deportierten und 63 Hinrichtungen. Ein Dutzend Widerstandskämpfer ist vollkommen verschwunden, insbesondere Jacques Simon, Abgesandter der OCM im Nationalen Widerstandsrat. Nach der Befreiung und der dann stattfindenden Leichenschau ist der Wille groß zu verhindern, die Identität der Toten herauszufinden. In der Zitadelle von Arras findet sich ein Massengrab mit den sterblichen Überresten von 12 Kämpfern des nationalen Widerstands, unter ihnen Jean Cavaillès. Dieser berühmte Philosoph und Professor an der Sorbonne, jedoch auch Gründer des Nachrichtennetzwerks Cohors-Asturies wurde am 28. August 1943 in Paris verhaftet. Er wurde vom Gericht des ”Schutzengels” der V1 zum Tode verurteilt und am 5. April 1944 in der Zitadelle von Arras hingerichtet. Sein Leichnam wurde erst im Juni 1945 von seiner Schwester identifiziert, fast ein Jahr nach der Exhumierung.
Um den Terror noch zu verstärken, zögert dieses Organ auch nicht, die verhafteten Widerstandskämpfer auf ganz Frankreich zu verteilen, um sie dann in Nord-Pas-de-Calais, Belgien oder Deutschland verschwinden zu lassen. Unter den Opfern sind auch vier Mitglieder der Compagnons de la Libération, zwei davon hingerichtet in Arras (Oberst Touny und Jean Cavaillès).
Zudem kamen auch die Aktivitäten des ”Schutzengels” der V1 gegen den nationalen Widerstand erst kürzlich ans Tageslicht. Der von der DGER verfasste und bei der SHD aufbewahrte Bericht beschreibt sehr treffend die ”Aktivitäten des Ast, die bis zum letzten Moment aktiv waren und sämtliche Departements überwacht und somit den Zugang zur Region äußerst schwierig gestaltet haben” (siehe Tonbildschau).
Laurent Thiery
Doktor der Geschichte,
Historiker von La Coupole, Zentrum der Geschichte und des Gedächtnisses in Nord-Pas-de-Calais
WEITERE INFORMATIONEN
Technische Akte der Spionageabwehr über den Ast Arras, aufbewahrt unter dem Aktenzeichen GR 28 P 7 172 und einsehbar im Lesesaal.