Die Befreiung der Lager
60 Jahre nach dem Untergang der nationalsozialistischen Diktatur und dem Ende der NS-Konzentrationslager bleiben immer noch viele Fragen offen, obwohl sehr viele Informationen über diese grauenvollen Zeiten mittlerweile vorliegen.
Schlussendlich kann niemand mit Gewissheit sagen, wie viele Menschen während dieser Periode dem System zum Opfer fielen oder wie viele Inhaftierte bei der Befreiung der Lager durch die alliierten Truppen noch am Leben waren.
Während der Befreiung der Überlebenden in den Lagern mischte sich die Freude mit übermäßiger Traurigkeit darüber, dass unzählige Opfer nicht rechtzeitig gerettet werden konnten. Hierzu zählen all diejenigen Deportierten, die an Krankheiten, körperlicher Erschöpfung oder aus Hunger und Hoffnungslosigkeit gestorben sind sowie auch all diejenigen, die noch im letzten Moment von ihren Peinigern ermordet wurden. Selbst heute kann das Ausmaß dieser menschlichen Katastrophe immer noch nicht genau beziffert werden.
Der 22. Juli 1944 steht für das beginnende Ende der NS-Todeslager. An diesem Tag treffen die sowjetischen Truppen am Konzentrationslager Majdanek ein, östlich der Stadt Lublin.
Bereits im Juni hatte Heinrich Himmler den Befehl gegeben, alle Lager vor Eintreffen der Alliierten zu evakuieren und die Inhaftierten in andere Lager zu bringen. Dieser Befehl betraf in erster Linie die Lager in den baltischen Staaten, wie auch das Lager Majdanek, wo im Herbst 1941 (1) zwischen 200.000 und 250.000 Menschen ermordet wurden. Es war das erste Lager, das vor Eintreffen der Befreiungstruppen geräumt wurde; dennoch wurden Tausende Inhaftierte dort alleine zurückgelassen.
Vor ihrer Flucht hatten die Deutschen vergeblich versucht, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Die von den sowjetischen Behörden unternommenen Bemühungen, die Weltöffentlichkeit über diese Verbrechen zu informieren, blieben seinerzeit ungehört.
Die progressive Auflösung der Lager Auschwitz-Birkenau Komplexes beginnt im Sommer 1944. Bis zum Ende desselben Jahres wurde ungefähr die Hälfte der 155.000 Inhaftierten in Zügen, auf Lkws oder zu Fuß in andere Lager im Westen verlegt. Im November 1944 werden die Vernichtungsanlagen in Auschwitz auf Befehl Himmlers außer Betrieb genommen (2). Nach der Landung der Alliierten in Frankreich beginnt im September 1944 die Evakuierung des Lagers Natzweiler-Struthof, dem einzigen Konzentrationslager auf französischem Boden (im annektierten Elsass), sowie des Lagers Herzogenbusch in den Niederlanden. Die Inhaftierten dieses Lagers wurden nach Sachsenhausen und Ravensbrück gebracht, während die Häftlinge von Natzweiler nach Dachau und in weitere Lager transferiert wurden.
Ende 1944, Anfang 1945 war Europa nur noch ein einziges Trümmerfeld, der Aktionsradius der Deutschen war auf einen Korridor in Mitteleuropa reduziert. Dennoch befanden sich im Januar 1945 in 24 Hauptlagen und ungefähr 1.200 von der SS kontrollierten Nebenlagern immer noch 700.000 inhaftierte Menschen, darunter über 200.000 Frauen (3).
Der geschätzte prozentuale Anteil an Deportierten, die bis zum 8. Mai 1945 getötet wurden, schwankt zwischen 25% und 50%.
Am 27. Januar 1945 erreichen die Einheiten der Roten Armee Auschwitz-Birkenau, südlich der Stadt Krakau. Es gelingt ihnen die Befreiung von ungefähr 7.000 Kranken und im Sterben liegenden Menschen, die von der SS zurückgelassen worden waren. Viele von ihnen sterben nur wenige Stunden oder Tage später an Erschöpfung. In seinem Bericht über die letzten Tage in Auschwitz beschreibt der italienische Schriftsteller Primo Levi die Situation, die beim Eintreffen der Befreier vorgeherrscht hatte: ”Wir waren nur noch menschliche Wracks. Rings um uns herum und auch in unserem Inneren waren sämtliche Spuren menschlicher Zivilisation erloschen. Die Deutschen haben es durch ihre Taten geschafft, aus uns menschlichen Wesen einfache Tiere zu machen (4).” Nur ungefähr 10 Tage früher, wurden ab dem 17. Januar 1945 ca. 60.000 Inhaftierte, die noch in der Lage waren zu laufen, Richtung Westen evakuiert.
Enfants à la libération du camp d'Auschwitz. Pologne, janvier 1945. Source : National Archives and Records Administration, College Park, Md.
Die Zahl derer, die diese ”Evakuierung” nicht überlebt haben, wird auf mindestens 15.000 geschätzt. (5)
Tausende Deportierte werden ermordet oder sterben an Erschöpfung
Auch die Inhaftierten von anderen Konzentrationslagern auf polnischem Gebiet, Gross-Rosen und Stutthof, sowie die Nebenlager werden in den Wintermonaten evakuiert, ebenfalls vor dem Eintreffen der Roten Armee. Tausende von ihnen wurden auf dem Weg ermordet oder starben an Hunger, Kälte oder Erschöpfung.
Durch die Ankunft der Massenkonvois mit Menschen, die entweder krank oder am Ende ihrer Kräfte waren, wurde die Situation in den im ”alten Reich” befindlichen Lagern noch weiter dramatisch verschlechtert. Es gab nicht ausreichend Nahrung, Hygieneartikel und medizinische Hilfe waren überhaupt nicht vorhanden. Dies führte zu Epidemien und einem dramatischen Anstieg der Sterberate in allen Lagern. Die SS reagierte daraufhin mit tödlichen Mitteln und dem einzigen Ziel, die Anzahl der Inhaftierten zu reduzieren. So entstanden Todeszonen und Lager mit Bettlägerigen, in denen die Gefangenen einfach sich selbst überlassen wurden. (6)
Anfang April 1945 gelingt es den Alliierten sowohl vom Osten als auch vom Westen her kommend ein wichtiger Vormarsch, der für den endgültigen Sieg über die nationalsozialistische Herrschaft entscheidend war. Für die Deportierten in Buchenwald, Dora, Flossenbürg, Ravensbrück, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau und Mauthausen sowie den Hunderten Inhaftierten in Nebenlagern werden diese letzten Wochen zum Kampf gegen den Tod. Bergen-Belsen nimmt unter den Konzentrationslagern eine besondere Stellung ein.
Evacuation des femmes valides lors de la libération de Bergen-Belsen, avril 1945. Source : DR
Im Frühjahr 1943 wird für die jüdischen Inhaftierten ein ”Empfangszentrum” eingerichtet und anfangs waren sie von den Deportationen in die Vernichtungslager ausgeschlossen. Sie mussten keine Zwangsarbeit leisten und die Lebensbedingungen waren besser als in anderen Lagern. Diese Umstände hielten jedoch nicht bis zum Ende an. Als im Herbst 1944 die Konvois mit den Inhaftierten aus evakuierten Lagern in Bergen-Belsen ankommen, ist dies der Beginn schrecklicher Massaker. Es gab viel zu wenige Unterkünfte, keine Hygieneartikel, für die Versorgung der Kranken standen keine medizinischen Mittel zur Verfügung und die ohnehin schlechte Nahrungsmittelversorgung wurde täglich schlimmer.
Zwischen Januar 1945 und dem 15. April 1945, dem Tag der Lagerbefreiung durch die britische Armee, werden zwischen 80.000 und 90.000 Menschen in Hunderten Konvois nach Bergen-Belsen verlegt (7). Die Zahl der Opfer, die an Krankheiten, insbesondere Typhus, an Hunger oder Erschöpfung starben, reicht in die Zehntausende. Als die Briten am 15. April im Lager eintreffen, bietet sich den Soldaten ein Bild des Schreckens: 10.000 Leichen, nicht begraben, einfach liegengelassen, dort wo sie gestorben waren. Die Lebenden waren von den Toten kaum zu unterscheiden. Der britische Militärarzt H. L. Glyn-Hughes schildert viel später sein Eintreffen in Bergen-Belsen wie folgt: ”Die Zustände im Lager waren nur schwer in Worte zu fassen. Kein Bericht und kein Foto können diese Horrorszenen wiedergeben, die wir vor den Baracken angetroffen haben, und der Zustand im Inneren war noch deutlich schlimmer. Im gesamten Lager waren Leichenberge in verschiedenem Ausmaß angehäuft, manche außerhalb der Stacheldrahtzäune, andere wiederum in den Baracken. In den verschiedensten Bereichen im gesamten Lager fanden wir unzählige Leichen. Selbst die Kanalisation war voller Leichen und in den Baracken selbst fanden wir unzählige tote Körper, teilweise waren sogar noch Überlebende im selben Bettgestell zwischen den Leichen” (8).
Selbst wenn Bilder nicht im Ansatz die Empfindungen dieser Menschen wiedergeben können, geben uns die Fotos und Filme, die von den britischen Militärkorrespondenten in Bergen-Belsen sowie von amerikanischen Reportern in anderen Lagern angefertigt wurden, heute einen Blick auf die internationale Betrachtung.
Evakuierung und Befreiung der letzten Lager
Die Evakuierung und Befreiung der letzten Lager dauerte einen ganzen Monat. Die amerikanischen Truppen trafen am 5. April 1945 als erste im Lager Ohrdruf ein, ein Nebenlager von Buchenwald in der Nähe von Gotha, wo die SS nur wenige Tage zuvor noch ein Massaker an den Inhaftierten verübte.
Das Konzentrationslager Buchenwald wurde am 11. April befreit. Die Evakuierung begann am 7. April. Von den 47.500 im Hauptlager inhaftierten Menschen wurden 28.000 per Zug oder zu Fuß in Richtung Flossenbürg, Dachau und Theresienstadt verlegt. Während dieser ”Evakuierung” starben Tausende an Erschöpfung oder durch Schläge von den begleitenden SS-Wachen. (9)
Retour vers la France de rescapés.Source : FNDIRP
Als die 6. Panzerdivision der amerikanischen Armee am 11. April in Buchenwald eintrifft, waren die SS-Leute bereits geflüchtet und sie hatten 21.000 Menschen alleine zurückgelassen. Am 14. April erhält der Lagerkommandant von Flossenbürg folgenden Befehl von Himmler: ”Wir werden uns keinesfalls ergeben. Das Lager muss sofort geräumt werden. Keiner der Inhaftierten darf lebendig dem Feind in die Hände fallen” (10).
Bis auf wenige Ausnahmen wurden die 45.000 Inhaftierten von Flossenbürg zu Fuß in Richtung Süden geführt. Dennoch verliert sich die Spur von Tausenden, die auf den verschiedenen Todesmärschen ihr Leben gelassen haben. Am 23. April finden die Befreier ungefähr 1.600 Überlebende in Flossenbürg. Neuengamme, ein Vorort von Hamburg, wurde vollständig vor Eintreffen der britischen Truppen evakuiert. Die letzten 10.000 Inhaftierten wurden bereits Mitte April von der SS nach Lübeck und dort an Bord von drei Schiffen gebracht. Diese wurden für Truppentransporte gehalten und folglich von britischen Flugzeugen bombardiert. 7.000 Deportierte sind bei dem ausbrechenden Feuer gestorben oder sie sind beim Versuch, das rettende Ufer zu erreichen, ertrunken.
Retour en autobus des premiers déportés, Paris. Source : FNDIRP
Die in Norddeutschland gelegenen Lager Sachsenhausen und Ravensbrück wurde nahezu vollständig vor der Befreiung geräumt. Am 23. April wurden 3.000 Überlebende nach Sachsenhausen gebracht und am 28. April ungefähr 3.500 Kranke und Kinder nach Ravensbrück. Als die amerikanischen Soldaten am 29. April in Dachau eintreffen, finden sie 30.000 Inhaftierte vor. Die am 27. April begonnene ”Evakuierung” wurde nicht zu Ende geführt, da die SS-Wachen die Flucht ergriffen, nachdem sie vom Vormarsch der amerikanischen Truppen erfahren hatten.
Die Befreiung des Lagers Mauthausen am 5. Mai markiert nicht nur das Ende dieses Konzentrationslagers, das 1938 mit seinen Nebenlagern errichtet wurde und in denen mindestens 100.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Befreiung markiert insbesondere das Ende der Gesamtheit dieses Systems der Konzentrationslager, dem grauenvollen Terrorinstrument der nationalsozialistischen Macht.
Affiche. Source : DR
Trotz beachtlicher Anstrengungen zur Bereitstellung der notwendigen medizinischen Hilfe für die Kranken sowie der Beschaffung von Lebensmitteln für die nahezu verhungerten Menschen, geht das Massensterben nach der Befreiung in allen Lagern weiter. Internationale Militärgerichte haben unverzüglich ihre Arbeit aufgenommen, um die Verbrechen zu bestrafen, was jedoch von der deutschen Bevölkerung nur wenig positiv empfunden wurde. Viele Jahrzehnte mussten vergehen, bis die Schreckenstaten von einer Mehrheit eingestanden wurden und das Interesse und die Empathie für die Opfer wuchsen. Heutzutage sind die überlebenden Zeitzeugen die wichtigste Informationsquelle für die nachfolgenden Generationen, damit ihnen das gesamte Ausmaß der Konzentrationslager bis zur Befreiung bewusst wird.
Anmerkungen:
(1) Jozef Marszalek, Majdanek, Lublin, Warschau, 1984.
(2) Andrzej Strzelecki, Evakuierung, Auflösung und Befreiung des KL Auschwitz, aus: Auschwitz, Nationalsozialistisches Vernichtungslager, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 1997, S. 39.
(3) Bundesarchiv Berlin NS/439. Liste vom Januar 1945 mit verschlüsselten Daten über die Wachen sowie die Inhaftierten in den Konzentrationslagern.
(4) Primo Levi, Si c'est un homme, Frankfurt, 1961, S. 178.
(5) Andzej Strzelecki, a.O.
(6) siehe Jens-Christian Wagner, Gesteuertes Sterben. Die Boelcke-Kaserne als zentrales Siechenlager des KZ-Mittelbau, aus: Dachauer Hefte, 20/2004, S. 127-139 ; Verena Walter, Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark als Sterbe- und Selektionslager, aus: Dachauer Hefte, 20/2004, S. 157-166; Carina Baganz, Wöbbelin: Das letzte Aussenlager des KZ Neuengamme als Evakuierungs- und Sterbelager, aus: Dachauer Hefte, 20/2004, S. 166-179.
(7) Thomas Rahe, Das Evakuierungslager Bergen-Belsen, aus: Dachauer Hefte, 20/2004, S. 49.
(8) Trial of Josef Kramer and Forty-Four Others (The Belsen Trial) Edit. von Raymond Phillips, London 1949, S. 31 und ff: Thomas Rahe, Befreiung und Tod: Zeichnungen von Kriegskorrespondenten aus Bergen-Belsen April-Juni 1945, aus: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 2/19995, S. 116.
(9) Harry Stein, Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945, Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999, S. 227-238.
(10) Stanislav Zamecnik, Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen. Zur Existenz des Himmler-Befehls vom 14./18. April 1945, aus: Dachauer Hefte 1/1985, S .219-231.