Die Geheimdienste von Vichy
Ein vor kurzem erschienener Film, Imitation Game, erinnert an die entscheidende Rolle, die das Entschlüsseln von Enigma im Sieg der Alliierten gespielt hat. Aber ist auch bekannt, dass der französische Geheimdienst Hans Thilo Schmidt schon 1931 rekrutiert hatte? Dieser deutsche Spion liefert die ersten Informationen über die Verschlüsselungsmaschine für geheime Botschaften. Ohne diese Informationsquelle wäre es vermutlich nicht möglich gewesen, die Maschine nachzubauen oder ihre Funktionsweise zu erforschen.
Der deutsche Spion Hans Thilo Schmidt lieferte weiterhin geheime Informationen an seine französischen Führungsoffiziere, bis ins Jahr 1943. Es handelt sich um eine vom französischen Staat abhängige Organisation unter der Leitung von Marschall Pétain, der damit fortfuhr, einen der Spione zu “führen”, dessen Handeln sicher zum Fall des Dritten Reiches beigetragen hatte. Diese einfache Feststellung zeigt auf, wie komplex das Vorgehen der Nachrichtendienste von Vichy war, deren anti-deutsches Handeln nach dem Kriegsende in zahlreichen Werken unterstrichen wird, die von einem Verein sehr aktiver Veteranen unterstützt wurden. Sie akkreditieren die Idee eines Doppelspiels in Vichy. Die Wiederentdeckung der Archive dieser Dienste liefert jedoch eine detaillierte Sicht: Ihre Aktionen richteten sich nicht nur gegen Deutschland und Frankreich, sondern auch gegen die Gaullisten, die Kommunisten und all jene, die der Politik von Marschall Pétain schaden konnten. Durch sie spielte die Armee eine Rolle in der Überwachung der Franzosen während der Besatzung.
Die Geheimdienste, zivile oder militärische Vorrechte?
Um diese Rolle zu verstehen, muss man auf die Geschichte der militärischen Geheimdienste zurückkommen. Diese umfassen die militärischen Aufklärungsdienste (SR) und die Spionageabwehr, nicht aber die Nutzung der Aufklärungsarbeit der einzelnen Ebenen der Organisation des Generalstabs durch die ”2. Büros”. In Frankreich führte der Skandal der Affäre Dreyfus (1894) dazu, dass die Vorrechte der Armee im Bereich der Spionageabwehr eingeschränkt wurden: Ab 1899 wird diese in Friedenszeiten dem Innenministerium übertragen. Während des ersten Weltkrieges wird die militärische Spionageabwehr unter der Form einer zentralen Aufklärungssektion (SCR) neu aufgebaut, die dem Innenministerium untersteht. 1919 geht der Auftrag zur Unterdrückung der Spionageabwehr an das Innenministerium zurück, aber das Militär behält eine reduzierte SCR, die nur Informationen sammeln, aber keine Verdächtigen verfolgen kann. So werden in der Zwischenkriegszeit tausende Dossiers verfasst, persönliche Akten über Ausländer, Franzosen, die verdächtigt werden, freiwillig Informationen zu liefern, aber auch über politische Organisationen oder Unternehmen.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlangt das Militär seine Vorrechte in Bezug auf die Spionageabwehr zurück. Alle militärischen Nachrichtendienste, (der SR Krieg unter Oberst Rivet mit einer Fliegerabteilung, der SR Marine, die SCR), werden in den Büros des Generalstabs, genannt 5. Büro, zusammengefasst. In jedem Militärbezirk und bei den großen Einheiten werden Büros zur Zentralisierung der Aufklärung (BCR) eingerichtet, unter Leitung eines Offiziers der militärischen Sicherheit (Offizier SM), der die Autorität über die zivilen Ordnungsorgane hat; er kann den bezirksleitenden General dazu auffordern, die Verdächtigen vor ein Militärgericht zu stellen (siehe Tonbildschau).
Im Zuge des Debakels von 1940 ziehen sich die Nachrichtendienste mit allen ihren Archiven nach Südfrankreich zurück. Im Hinblick auf eine bevorstehende Auflösung der 5. Büros versammelt Oberst Louis Rivet, Leiter des 5. Büros des Generalstabs des Kriegsministeriums, seine Offiziere im Seminar von Bon-Encontre, in der Nähe von Agen, und schlägt vor, verdeckte Aufklärungsdienste zu organisieren. Die Klauseln des Waffenstillstands genehmigen in der Tat die 2. Büros, die die Aufklärung auswerten, aber nicht die Suche nach Informationen gegen die Achse und ihre Verbündeten.
Das Entstehen der Geheimdienste von Vichy
So entstehen im Juli 1940 die geheimen Netzwerke, die inoffiziell den 2. Büros jeder Armee unterstellt sind. Der verdeckte SR Krieg nimmt unter der Leitung des Oberstleutnants Perruche den Namen Kléber an. Sein Hauptquartier ist in Vichy und Royat, unter dem Deckmantel eines ”Office du Retour à la Terre”. Die Fliegerabteilung des SR Krieg wird zu einem unabhängigen SR Luft unter der Leitung von Oberst Ronin, dessen Hauptquartier sich in Cusset (Allier) befindet. Diese Dienste stehen in Kontakt zum Intelligence Service in London. Der SR Marine unter der Leitung des Kapitäns Samson untersteht dem 2. Büro des Generalstabs der Marine und hat seine eigene Spionageabwehr-Abteilung, die 1942 zur Schiffssicherheit wird.
Jedoch erweisen sich die Befürchtungen der Armee hinsichtlich einer kompletten Auflösung als unbegründet. Die Ereignisse von Mers el-Kébir und später Dakar bewirken die Aufrechterhaltung einer Armee unter der Autorität von Vichy, deren Effektive Anfang 1942 550.000 Männer beträgt, davon 2.100 Offiziere, denen noch die jungen Mitglieder der Chantiers de la jeunesse (Pflichtarbeitslager für Jugendliche) hinzuzuzählen sind. Die militärischen Spionageabwehrdienste wurden also aufrechterhalten, was die Situation des Kriegszustandes verlängerte. Nur die Namen ändern sich: Die zentrale Aufklärungssektion (SCR) wird zum Service des menées antinationales (MA) und die BCR werden zu den Bureaux des menées antinationales (BMA). Die Organisation ist identisch. Abhängig vom 2. Büro der Armee in Royat und unter der Leitung des Oberstleutnants Guy d'Alès, haben diese Büros ”den Schutz der Schweigepflicht der Landesverteidigung und den Schutz der Armee gegen antinationale Aktionen” zur Aufgabe. Sie müssen Spionage, Sabotage und Propaganda jeder Art bekämpfen, kommunistische Aktivitäten, innerhalb der Armee sowie auch im Rahmen der Chantiers de la jeunesse. Der Dienst Menées Antinationales (MA) wird von den deutschen Waffenstillstandskommissionen zugelassen, unter der Bedingung, dass alle Aktivitäten, die der deutschen oder italienischen Armee oder ihren Verbündeten feindlich eingestellt sind, verboten sind. Der “offensive” Teil der Spionageabwehr, jener der damit beauftragt ist, deutsche und italienische Spione zu verfolgen und Informationen gegen die Achse zu sammeln, wird offiziell aufgelöst.
Sehr diskrete Geheimdienste
Ihren Fortbestand hat sie dem Deckmantel einer Organisation, die dem Landwirtschaftsministerium untersteht, zu verdanken: Die Gesellschaft Travaux ruraux (TR). Mit ca. 15 Posten, davon zwei im Ausland, und unter der Leitung eines so genannten Dienstes “la Centrale” oder “Cambronne” mit Sitz in Marseille, Villa Éole, unter der Direktion des Kommandanten Paul Paillole, verfolgen die TR den Kampf gegen die Nachrichtendienste der Achse und zentralisieren Informationen, die von Agenten, informellen Mitarbeitern (HC) oder Doppelagenten (Agenten W) stammen. So gelangen sie immer wieder an Informationen, die von Agenten wie Hans Thilo Schmidt übermittelt werden. Es besteht also eine doppelte Struktur der militärischen Spionageabwehr, die eine versteckt, die andere offiziell.
In jedem Militärbezirk liefern die SM-Offiziere der Polizei Anfragen zu Ermittlungen und unterbreiten die Fälle dem Generalkommandanten des Bezirks, der die Befugnis hat, diese vor das Militärgericht zu bringen. Die Agenten im Dienste Deutschlands und Italiens, aber auch Gaullisten und Kommunisten sind die Zielscheibe dieser Ermittlungen und Verfolgungen durch die französische Militärjustiz. Mehrmals, im Zuge der Umstellungen in der Regierung von Vichy und insbesondere der Machtkämpfe zwischen Darlan und Laval und ihrer Anhänger, ist der Dienst von der Abschaffung bedroht, oder sieht sich verpflichtet, seine Aktivitäten nur auf die Armee zu beschränken.
Nach einer offiziellen Auflösung im März 1942, wird er fast sofort wieder eingeführt, unter dem Namen Service de Sécurité militaire (SSM) unter Beibehaltung der gleichen Missionen, bis zur Auflösung der Armee des Waffenstillstands Ende 1942. Weit davon entfernt, sich mit dem Schutz der Armee des Waffenstillstands zufrieden zu geben, erstreckt sich die Aktion des Dienstes MA auf Überwachungen des Territoriums und der politischen Aktivitäten in Frankreich, Nordafrika und den Kolonien. Jedes mit der Spionageabwehr im Militärbereich betraute Büro muss drei Akten anlegen: Eine Akte der Lokalitäten in der die “Anzahl der Bewohner und ihre Eigenschaften (Bauern, Arbeiter usw., Ausländeranteil usw. [...], mögliche Unruheherde, festgestellte anti-nationale Aktivitäten (Verteilung von Flugblättern, Demonstrationen der Bevölkerung, Streiks, Sabotage oder Attentate, Spionage)” aufgelistet sind; eine Akte mit den Einheiten jedes Generalstabs, Korps oder Militärdienstes, der alle Informationen zur Rekrutierung, Moral, empfindlichen Punkten, die es zu verteidigen gilt, zur gaullistischen, kommunistischen oder kollaborationistischen Propaganda enthält; und individuelle Akten, jene der Informatoren und der “verdächtigen und fragwürdigen Personen auf nationaler Ebene”.
Ein Verwirrspiel
Aber der Dienst MA-TR führt auch Synthesen aus: Monatlich wird ein Bericht von 150 bis 200 Seiten verfasst. Er fasst die Aktivitäten der BMA und der TR zusammen, aktualisiert die Liste der Verhaftungen und Verurteilungen der Agenten, die für das Ausland, hauptsächlich für die Achsenmächte arbeiten, aber ebenso von Gaullisten und Kommunisten, präzisiert die Gesamtheit illegaler Transaktionen mit dem Besatzer und erforscht die öffentliche Meinung.
Diese politische Überwachung bleibt auch hochrangigen Personen nicht erspart: Dank der Auswertung von telefonischen Abhörungen ist der Generalstab über die Aktivitäten von Ministern und die Verbindungen zwischen Paris und Vichy informiert. Im Oktober 1941, zum Zeitpunkt der Hinrichtung von Geiseln im Anschluss an die Attentate von Nantes und Bordeaux werden die Konversationen des Leiters des Kabinetts von Marschall Pétain, Henri du Moulin de la Barthète, des Innenministers Pierre Pucheu, sowie des deutschen Botschafters abgefangen und aufgezeichnet (siehe Tonbildschau). Die militärische Spionageabwehr geht weit über die ihr anvertrauten Funktionen hinaus und kann ein bedeutendes politisches Werkzeug im Dienste des Generalstabs und der militärischen Verantwortlichen in der Regierung gegen die zivilen Minister darstellen, aber auch ein Mittel zur Unterdrückung jeglicher Systemkritik. Im November 1942, zum Zeitpunkt der Invasion in der Freien Zone, schafft es ein Teil der Agenten dieser militärischen Nachrichtendienste nach Nordafrika zu gelangen, wo sie unter der Leitung von Oberst Rivet, und dann Ronin, den giraudistischen Geheimdienst gründen, der sich später, im November 1943 an das BCRA anschließt, um die Direction générale des services spéciaux (DGSS) unter der Leitung von Jacques Soustelle zu bilden.
Umstrittene Archive
In Frankreich kommt es im Juni 1943 zur wahren Katastrophe, als die deutschen Nachrichtendienste ca. 20 Tonnen von Archiven der französischen Geheimdienste beschlagnahmen, die in einem zugemauerten Raum des Schlosses von Lédenon in der Nähe von Nîmes versteckt waren. Nachdem eine anfängliche Auswertung durch das Reichssicherheitshauptamt und die Abwehr (siehe Die deutschen Unterdrückungsdienste im besetzten Frankreich), werden sie 1945 vom Aufklärungsdienst der Roten Armee beschlagnahmt, der sich seinerseits an eine Auswertung macht. Hat die Beschlagnahme dieser Archive zu Verhaftungen deutscher Agenten, die gegen die Nazis heimlich für Frankreich gearbeitet haben, geführt? Dies ist nicht der Fall bei Hans Thilo Schmidt, der im April 1943, drei Monate vor der Entdeckung der Archive, verhaftet wurde. Der Spion, der als erster über Enigma Auskunft gab, wurde also nicht durch die französischen Dokumente entlarvt. Aber vielleicht andere…nur eine genaue Untersuchung der 20.000 persönlichen Dossiers der Unterserie GR7NN2 kann darüber Auskunft geben.
Claude d'Abzac-Epezy
Professor für die Vorbereitungsklassen zur Aufnahme auf die Eliteschulen am Lycée Louis le Grand.
Gastwissenschaftlerin an der Sorbonne-IRICE, Mitglied der Académie de l'air et de l'espace.
WEITERE INFORMATIONEN
Die Archive der französischen Geheimdienste, die zunächst 1943 von den Deutschen und dann 1945 von der Roten Armee beschlagnahmt wurden, sind heute Teil der so genannten “Moskauer Bestände”. Die Gesamtheit wurde 1994 dem historischen Dienst der Armee zurückgegeben und in der Unterserie GR 7 NN 2 archiviert. Nur ein Teil der 20.000 sortierten Dossiers dieser Unterserie betrifft die Geheimdienste von Vichy. Die meisten der Archive stammen aus der Zwischenkriegszeit. Das Inventar GR 7 NN 2 steht in Vincennes zur Verfügung. Diese Archive können im Lesesaal eingesehen werden.