Die Übermittlungen an den zuständigen Dienst
Einer der größten Schätze der Archive der Nachrichtendienste ist die Sammlung von Fernschreiben oder Telegrammen. Die in den nationalen Archiven und dem zentralen Archiv des französischen Verteidigungsministeriums aufbewahrten Dokumente haben ihre eigene Logik und sie geben viele Geheimnisse preis. Sie spiegeln den alltäglichen Widerstand wider und ermöglichen einen teils präzisen und erstaunlichen Einblick in den Austausch von Informationen und das Treffen von Entscheidungen. Zudem helfen sie dabei, die Aktionen des Widerstands vor Ort besser zu verstehen.
Bei diesen Dokumenten handelt es sich um kurze, maschinengeschriebene Texte, die radiotelegrafisch zwischen der Zentrale in London oder Algier (Home Station) und den im besetzten Frankreich ansässigen Netzwerken ausgetauscht wurden. Die Übertragung erfolgte über gut ausgebildete und vom Widerstand unterwanderte Funker, die die verschlüsselten Nachrichten über einen bestimmten Posten (Out Station) per Morsealphabet versenden und/oder empfangen konnten.
Der Krieg der Radiowellen.
Da das Zentralbüro für Aufklärung und Aktion (BCRA) jedem ”Pianisten” einen Erkennungsnamen zugewiesen hatte, der für jeglichen Funkkontakt zu verwenden war, konnte die Belegschaft anhand dieses Kriteriums unmittelbar den Zusammenhang zwischen dem Codenamen des Bedieners und seinem Netzwerk und Einsatzort herstellen. Nach Kriegsende ging viel von diesem Fachwissen über Zusammenhänge verloren. Dies erklärt zweifelsohne warum die von den zuständigen Personen der nationalen Archive und dem zentralen Archiv des historischen Dienstes der Verteidigung (SHD) zusammengestellten Bestände vorrangig eine Klassifizierung nach Erkennungsnamen einer Ordnung nach Familiennamen vorziehen, da auf diese Weise die Zuordnung zu einem Netzwerk besser möglich ist. Bequemlichkeit wurde zum neuen Maßstab.
Heutzutage ist dieser Ansatz hinderlich für alle, die nach bestimmten Namen suchen möchten. Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Das Lesen der Fernschreiben ist für all jene, die nur über wenig Vorkenntnisse verfügen, sehr verwirrend. Um diese Texte umfassend verstehen zu können, muss der Kontext bekannt und klar sein. Zudem sind diese Fernschreiben voll mit Pseudonymen, Erkennungsnamen und sonstigen Alias-Namen, deren Hermetik bereits in Kriegszeiten für den Feind äußerst verwirrend sein musste! Den Feind gibt es nicht mehr, aber der Alias-Name bleibt bestehen...
Jemand, der Nachforschungen anstellen möchten, und vor einer Sammlung von äußerst knappen Fernschreiben steht, in denen die Identitäten, Erkennungsnamen, Netzwerke und Regionen kaum nachvollziehbar sind, wird möglicherweise schnell enttäuscht aufgeben. Umso größer ist die Freude darüber, dass Boss, Ex-20, Pioche, Alceste, Rectangle, Bip, Bip-W, Pal, Pal-W, Bel, Kim, Rod, Iroquois, Clovis, Brumaire, Fana identifiziert werden konnten, von denen nun ihre Mission, Funktion oder bestimmte ”Serien”-Konzepte bekannt sind! Das erste der hier vorgestellten Fernschreiben wurde ausgewählt, damit auch Anfänger die Chance haben, sich im vagen Nebel der Pseudonyme der BCRA zurechtzufinden. Die folgenden zeigen die Wichtigkeit der Kommunikation und der Datenübermittlung zwischen dem freien Frankreich und dem besetzten Frankreich, auf verschiedenen Ebenen und unter verschiedenen Umständen. Informationen für alle und jedermann, d. h. handeln und erlauben zu handeln.
Von BCRA in REX ZO, Nr. 50, 29. Juli 1943, ”Pour Sophie” (siehe Tonbildschau)
Am 29. Juli 1943 informiert das BCRA Sophie, alias Claude Serreulles, zuständig für die vorläufige Generaldelegation in Paris, darüber, dass er seinen Agenten Pseudonyme geben soll, die aus thematischen Serien stammen. Auf diese Weise erhielten die Anführer von zivilen Missionen Namen von Staatsmännern (Danton, Necker), Radioanstalten wurden zu Personen (Berbère, Gascon), Saboteure erhielten den Namen von Schiffen (Barque, Pakebot/Paquebot) und die für Luftoperationen verantwortlichen Offiziere wurden zu Gelehrten (Gauss, Faraday, Mariotte). Die Theater in Paris wurden dazu genutzt, Pläne für die Übermittlung zu schmieden (Bouffes Parisiens, Deux Anes, Michodière). Die Städte in Nordafrika hingegen wurden zu Überwachungsschauplätzen oder sie dienten der Übermittlung (Agadir, Tlemcen).
Dieser Ansatz wurde später wiederaufgenommen, wo dann neue thematische Serien zum Einsatz kamen, teilweise wurden auch alte Bezeichnungen aus Sicherheitsgründen ersetzt: Saboteure erhielten dann Namen von Werkzeugen (Fléau, Lime, Pelle) und die Anführer von zivilen Missionen erhielten Namen aus Werken von Molière (Oronte, Philinte). Als beginnend im Herbst 1943 die militärischen Delegierten ins Leben gerufen wurden, versteckten sich diese hinter geometrischen Begriffen (Raute, Gerade, Linie).
Von REX in BCRA, Nr. 3, 29. Mai 1943 (siehe Tonbildschau)
Am 29. Mai 1943 informiert Rex, alias Jean Moulin das BCRA über die erste Informationsveranstaltung des Nationalen Widerstandsrats (CNR oder Conseil national de la Résistance) sowie über die Namen der vertretenen Organisationen. Die Veranstaltung wird weltberühmt und zum historischen Ereignis. Dabei ist zu beachten, dass das Fernschreiben von Rex als Datum den 25. Mai nennt. Dieser Tag war ursprünglich vorgesehen, musste jedoch aufgrund der konstituierenden Sitzung des Nationalen Widerstandsrats auf den 27. verschoben werden, da im letzten Moment Louis Marin der republikanischen Föderation verhindert war und Rex daran festhalten wollte, dass alle 16 Organisationen persönlich anwesend waren. Man kann heute erkennen, dass das Fernschreiben am 2. Juni in London eingetroffen ist.
Von OYSTER an das BCRA, 1. Juli 1943 (siehe Tonbildschau)
Am 1. Juli 1943 verfasst Oyster, alias Michel Pichard, Leiter des Ostblocks des Büros für Luftoperationen (BOA) sein Fernschreiben Nr. 35, um London darüber zu informieren, dass in Côte-d'Or zwei Truppen bereitstehen, um per Fallschirm abgeworfenen Waffennachschub (auch unter dem Codennamen Arma bekannt) auf dem ihnen ordnungsgemäß bestätigten Gelände auf markierten Michelin-Karten 65 und 66 in Empfang zu nehmen. Diese einfachen Straßenkarten im Maßstab 1:200.000 und mit präzisem Kartengitternetz waren vielfach im Einsatz, um Koordinaten punktgenau zu bestimmen. Das am 6. in London eingegangene Fernschreiben enthält wichtige Elemente über die gesamte geheime Luftoperation, die von den so genannten ”Gens de la Lune” organisiert war: Name und Koordinaten des geheimen Gebiets, eine ermutigende Botschaft sowie Erkennungsmittel.
Ein Gebiet erhielt den Codenamen Anjou. Es befand sich in der Nähe von Poiseul-la-Grange (30 km nordwestlich von Dijon). Das andere Gebiet, Poitou, liegt in der Nähe von Saint-Philibert (Kanton Gevrey-Chambertin, 15 km südlich von Dijon). Dem BCRA wurden vier Sätze im Voraus abgesprochene Sätze übermittelt, damit die Auskunft am entsprechenden Tag, zum Zeitpunkt, an dem das RAF-Flugzeug zum Abflug in den Osten bereit sein wird, nach Erteilen des Befehls durch das Air Ministry und durch den BBC-Sprecher bekanntgegeben werden konnte: Das meckernde Kamel oder Das Schaf blökt, für Anjou, Die Gitarren sind stumm oder Francine ist kahl, für Poitou. Sobald diese ”persönlichen Nachrichten” entschlüsselt und der bekannte TSF-Posten erloschen war, machten sich die für das entsprechende Gebiet zuständigen Kameraden vorsichtig auf zum Treffpunkt. Gegen Mitternacht, beim Anflug des Flugzeugs, sendeten die Männer mittels Taschenlampen das Erkennungszeichen in Morseschrift: P für Anjou, Q für Poitou. Der Laderaum öffnete sich und die Container wurden abgeworfen. Die Anzahl der Container war aufgrund der Größe des Gebiets und der Anzahl an Freiwilligen auf maximal zehn beschränkt.
Poitou und seine von Alix Lhote angeführte Gruppe, ein junger Lehrer aus dem Dorf Saint-Philibert, erhielten auf diese Weise die ersten per Fallschirm abgeworfenen Waffen der in Côte-d'Or stationierten BOA in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1943. Vier Nächte früher, in der Nacht vom 12. auf den 13. erzielte Acrobat, ein Netzwerk der Special Opérations Executive (SOE) unter der Leitung von John Starr, einem britischen Offizier der Fallschirmjäger, nur 15 km weiter, zwischen Arcenant und Meuilley, in der Nähe von Nuits-Saint-Georges, ebenfalls einen nennenswerten Erfolg.
Von BCRA an OYSTER, 8. September 1943 (siehe Tonbildschau)
Am 8. September 1943 informiert das BCRA Oyster über eine mögliche Operation in Vendée, die ab dem 15. stattfinden sollte. Es handelt sich hierbei um Operation Homo (Code für den Fallschirmabsprung von Agenten), die vom BCRA äußerst geheim gehalten wurde. Dies war möglich, weil das BCRA seinen Agenten umfassend vertrauen konnte: Es war bekannt, dass Michel Pichard verantwortlich war und sich selbst darum kümmern würde bzw. seinen Stellvertreter schicken würde.
Genauer gesagt handelt es sich bei Vendée um ein Gebiet im Department Côte-d'Or, nördlich von Saulx-le-Duc, in der Nähe von Luxerois, im Kanton Is-sur-Tille. Am frühen Abend verkündet die BBC folgenden vereinbarten Satz: Die Knechtschaft ist unbestimmt. Und inmitten der Nacht vom 15. auf den 16. landen die Fallschirmjäger erfolgreich in Vendée: Raymond Fassin, militärischer Delegierter der Region A, Maurice de Cheveigné, Funker, Pierre Jans, Funker, und Michel Gries, Sabotageunterweiser.
BCRA/BRIAND, Nr. 54, 20. Januar 1944 und Nr. 190, 31. Januar 1944 (siehe Tonbildschau)
Das Fernschreiben vom 20. Januar 1944 für Briand, alias Pierre Brossolette gibt uns detaillierte Einblicke in die ”affaire Grandclément”, eine Geschichte des niederträchtigen Verrats, der sich hauptsächlich in Bordeaux abspielt. Fassen wir die wesentlichsten Fakten zusammen: André Grandclément, regionaler Leiter der Organisation civile et militaire (die OCM ist die wichtigste Bewegung in der nördlichen Zone), wird am 19. September 1943 von den Deutschen in Paris verhaftet. Schnell wird er von Friedrich Dohse, Offizier der SS und Leiter der SIPO-SD in Bordeaux, einer Gehirnwäsche unterzogen und fünf Tage später bereits wieder auf freien Fuß gesetzt. Dohse ist für seine manipulierende Art bekannt. Nach einigen Schlägen gegen den Widerstand von Bordeaux, kommt es zur Affäre in der Affäre: Daniel Joubert und André Thinières, zwei Vertraute von Grandclément, überqueren mithilfe von Dohse am 20. Dezember die französisch-spanische Grenze in der Nähe von Hendaye. So unglaublich dies auch klingen mag, haben die beiden einen Entwurf für einen Waffenstillstand zwischen Deutschland und dem Widerstand bei sich, den sie in Algier übergeben sollten. Ihr Oberst Alfred Touny, nationaler Leiter der OCM ist über diese Entwicklung informiert! Die beiden treffen am 5. Januar 1944 in Algier ein und werden am 7. von André Philip, Kommissar für Innere Angelegenheiten, empfangen, bevor sie wenige Zeit später unter Hausarrest gestellt werden (siehe Tonbildschau).
Ab diesem Zeitpunkt gibt es mehrere Fernschreiben von London und Algier, um die betroffenen Netzwerke in Kenntnis zu setzen. Dieses an Briand gerichtete Fernschreiben ist ein Beispiel hierfür: Die Anweisungen für die Netzwerke sind eindeutig: ”Sofort alle Kontakte mit Langlois und seinen Leuten einstellen (gelesen: Touny und Generalstab der OCM). Alle Leiter von der erwiesenen Kollaboration zwischen Grandclément und der Gestapo unterrichten. (...). Allen ist mitzuteilen, dass uns unwiderlegbare Beweise für den seit November bestehenden Kontakt zwischen Langlois und den Gesandten von Grandclément und der Gestapo vorliegen.” Gleichzeitig kursieren von Frankreich in Richtung London weitere Fernschreiben, z. B. eines vom 31. Januar mit der Antwort von Briand, das sich auf eine ”gründliche Untersuchung” bezieht, und es jedermann frei steht, sich darauf zu beziehen oder nicht (siehe Tonbildschau)
Von GASCON an BCRA, 29. März 1944 (siehe Tonbildschau)
Am 29. März 1944 bestätigt Gascon, alias Guy Baron, Funker der BOA die Katastrophe, die er bereits am 25. März angekündigt hatte: das Eindringen der Deutschen am Sitz des Ostblocks der BOA (Regionen C und D), das Beschlagnahmen von Dokumenten und Hintergrundinformationen, sowie die Verhaftungen des Gouverneur, alias François Delimal, sowie von Gauss, alias Michel Pichard und Doyen, alias Pierre Manuel. Schwacher Trost: Gascon kann lediglich mitteilen, dass er selbst und der Stellvertreter vonFaraday (d. h. René Collin) versuchen werden, die Übermittlungen aufrechtzuerhalten und dass ein Code unversehrt geblieben ist.
Falls dieses Fernschreiben es schafft zu verdeutlichen, wie schwerwiegend diese Ereignisse für das Sekretariat des BAO in der rue de Lourmel à Paris, 15e gewesen sind, so zeigt es zudem, dass Gascon nicht umfassend informiert war, denn in Wahrheit war nicht Michel Pichard verhaftet worden, sondern vielmehr Roger Lebon, Marthe Lebon, Anne-Marie Krug-Basse und Maria Polacek. Was Gascon ebenfalls außer Acht lässt ist die Tatsache, dass François Delimal, alias Faraday, alias Gouverneur, sich im Laufe der Befragung in der rue des Saussaies, Sitz der SIPO-SD in Paris das Leben genommen hat.
Michel Blondan
Professor im Ruhestand. Doktor der Rechte, mit Fachgebiet Geschichte der Rechtswissenschaften und ihrer Einrichtungen.
Autor der beiden Werke über die Gewohnheiten von Saint-Claude.
Seine aktuellen Recherchen beschäftigen sich mit dem Büro für Luftoperationen, Region D.
WEITERE INFORMATIONEN
Die Fernschreiben und Telegramme zwischen den Zentralen in London und Algier und den im besetzten Frankreich tätigen Netzwerken werden im SHD (Unterserie 28 P 5) sowie in den nationalen Archiven (Unterserie 3AG2) aufbewahrt.