Die Vermissten des Algerienkriegs
Sous-titre
Autorin: Soraya Laribi
Das Wort „Vermisste“ bezeichnet nicht nur Personen, die nicht gefunden oder deren Leichname nicht identifiziert wurden, während sie sich in einer Situation der Todesgefahr ( periculum mortis) gemäß Artikel 88 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (Nr. 58-779 vom 23. August 1958) befanden, sondern auch die Ziele einer schrecklichen Waffe, die noch keinen Namen hatte, aber von den Vereinten Nationen (UNO) 1978 als „Verschwindenlassen“ bezeichnet wurde. Diese direkten Opfer kamen zur schmerzlichen Bilanz der menschlichen Verluste des Algerienkriegs hinzu, der auch nationaler Befreiungskrieg oder algerische Revolution genannt wird und zwischen 1954 und 1962 stattfand. Die Familien und Angehörigen, die sofort in tiefe Verzweiflung gestürzt wurden, sind als Opfer Kollateralschäden, die oft das Verschwinden gemeldet haben und vor allem die Erinnerung an diese Vermissten trugen.
Massengrab von Diar El Choukh, Si Mohamed Bellounis zugeordnet.14.07.1958-16.07.1958, Dar Chiouck; Algerien ©Marg DREAGER/ECPAD/Verteidigung
Die Konfrontation zwischen den Nationalisten - vereint in der Nationalen Befreiungsfront (FLN), die Frontisten, deren bewaffneter Arm die Nationale Befreiungsarmee (ALN) war, oder in der algerischen nationalistischen Bewegung (MNA), die Messalisten - und der französischen Armee führte zu vielen militärischen aber auch zivilen Verlusten, wie bei anderen „Kriegen“, obwohl dieses Wort von den französischen Behörden bis 1999 offiziell abgelehnt wurde. Bevor ein Soldat als „vermisst“ galt, wenn er nicht zu seiner Einheit zurückkehrte, wurde er dennoch zuerst als „Deserteur“ bezeichnet, außer wenn eine Zeugenaussage die Mitnahme von Waffen als erschwerenden Faktor und daher den Wechsel zum Feind bestätigte. Wenn er dann wieder zu seinem Posten stieß oder wenn er vor der Gnadenfrist (von sechs Tagen) aufgegriffen wurde, wurde eine Mitteilung zur Einstellung der Suche verbreitet und eine Bestätigung über die Aufhebung der Kontrolle der Deserteure wurde herausgegeben. Andernfalls verfassten der Kommandeur (für die militärischen Einheiten) oder der Gruppenkommandant (für die Gendarmerie) eine Vermisstenakte. Ein Urteil zur Feststellung des Todes konnte von den Justizbehörden nach fünf Jahren erstellt werden, wenn keine Informationen gefunden wurden. Berufssoldaten sowie Soldaten des Kontingents (Franzosen oder in der Siedlungskolonie geborene) konnten daher dienstlich oder anderweitig vielen Situationen ausgesetzt sein, die zum Verschwinden führen konnten: „Zusammenstoß mit dem Feind“, „Flugzeugabsturz“, „Verdacht auf Ertrinken“ usw. In der gleichen Weise sind viele der Nationalisten, die am Ende des Algerienkriegs nicht wieder auftauchten, vermutlich infolge der von der französischen Armee durchgeführten „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder „der Befriedung“ gestorben.
Andere Unabhängigkeitskämpfer sind durch den Einsatz bestimmter Vorgehensweisen verschwunden, die oft von Folter begleitet waren, wie Abholungen (gewaltsame Gefangennahme) oder willkürliche Verhaftungen (Freiheitsberaubung und Verstecken der Person). Ihr systematischer Einsatz durch die französische Armee, mit dem Ziel Informationen zu erpressen und allgemeiner den Unabhängigkeitskampf zu beenden, führte in der Schlacht von Algier (7. Januar – 9. Oktober 1957) zu vielen Opfern. Das bekannteste Beispiel ist der kommunistische Mathematiker und militante Antikolonialist Maurice Audin. Paul Teitgen, Generalsekretär der Präfektur von Algier, tritt als Zeichen des Widerstands gegen das Fehlen jeglicher Garantie für die von der Armee verhafteten Personen am 24. März 1957 von seinem Amt zurück. Dagegen werden die Methoden des antisubversiven Krieges (die, ohne dass dies offen ausgesprochen würde, Folter und Massenhinrichtungen mit anschließendem Verschwinden der Leichname mit einschließen) von Offizieren wie Oberst Roger Trinquier - der auf der Anwendung des Dreigespanns: Geheimndienst, psychologischer Krieg und bewaffnete Operationen beharrt - in seinem 1961 veröffentlichten Werk mit dem Titel La guerre moderne gepriesen. In Frankreich verschwinden im selben Jahr mehrere Demonstranten vom 17. Oktober infolge der vom Polizeipräfekten Maurice Papon angeordneten Repression.
Auch wenn die Frontisten in ihren Rängen tausende Opfer zählen, stecken sie auch hinter Fällen des Verschwindens, wie jenem der gemischten Einheit der algerischen Nomadenkompaniegruppe, die sich 1956 in Les Abdellys (zwischen Tlemcen und Sidi-Bel-Abbès) befand, oder nach den Verträgen von Évian am 18. März 1962. In der letzten Phase des Algerienkriegs wurden sie von den „Geheimagenten“ (von Paris entsandte Beamte) unterstützt, deren geheime Absprache mit dem Feind von gestern mit der Absicht gerechtfertigt wird, die Organisation der geheimen Armee (OAS) zu enthaupten, die mit spektakulären Operationen (wie Sprengstoffanschlägen) in Algier und Oran die algerische Selbstbestimmung ablehnt. Die Frontisten ihrerseits wollen den von ihnen unterzeichneten Waffenstillstand vom 19. März nicht offiziell brechen. Daher finden in der Autonomen Zone Algier auf Befehl von Kommandant Si Azzedine Abholungen europäischer Aktivisten (oder solcher, die angeblich welche sind) statt, nicht ohne Kollateralschäden. Ihre Leichname werden dann in „Massengräbern“ vergraben. Die Vermissten, deren Gesichter in der Presse unter der Rubrik „Suche im Interesse der Familien“ erscheinen, sind nicht nur Mitglieder der OAS. Auch wenn einige Entführte oder Gefangene freigelassen werden konnten, alarmiert ihr Bericht ihre Umgebung: Familie, Freunde und Nachbarn, die bereits über das Schicksal jener, die nicht befreit wurden, beunruhigt waren, sind gelähmt vor Angst, die nächsten Opfer zu sein. Die Entdeckung von Massengräbern und erst recht das Wiederauftauchen mancher Leichname, deren Identifizierung komplex blieb, trug außerdem zu einem noch größeren Entsetzen der Bevölkerung bei, die bereits für die schauerlichsten Gerüchte über die Zukunft der Vermissten empfänglich war, wie zum Beispiel jenes über „den Handel mit weißen Frauen“ oder „erzwungene Blutentnahmen“.
Diese Fälle Verschwundener, die einer der Hauptgründe für die Flucht der Algerienfranzosen sind, nehmen aufgrund der Unsicherheit durch die Implosion der FLN aber auch durch den Konflikt mit der MNA zu. Die gemischten Kommissionen, die sich um die Umsetzung des Waffenstillstands kümmern sollten, bleiben wirkungslos. So gibt es nun unterschiedliche Täter sowie Beweggründe für das Verschwinden: unkontrollierte Banden oder Ganoven frönen schändlicher Verbrechen, wie Autodiebstählen und persönlichen Racheakten. Die „Marsiens“, die zum Zeitpunkt des Waffenstillstands der FLN beigetreten sind, zeichnen sich durch schwere Gewalttaten aus. Sie ließen mehrere Menschen verschwinden, darunter einen Teil der Hilfskräfte der französischen Armee (missbräuchlicherweise „Harkis“ genannt), denen ihre persönlichen Dokumente abgenommen werden konnten. Dieser „Tod als Bürger“ war auch eine Form der Spurenbeseitigung. Vor der Unabhängigkeit wurden am 3. Juli auch einige einberufene Franzosen, die den lokalen Streitkräften zugeteilt worden waren und die Ordnung in der Phase des Machtwechsels sicherstellen sollten, als vermisst gemeldet. Zur Zeit der Unabhängigkeitsfeiern findet am 5. Juli ein Massaker an Europäern in Oran statt, zu dem noch zahlreiche verschwundene Menschen kommen, was durch das späte Eingreifen von General Joseph Katz nicht verhindert werden konnte. Die Armee an den Grenzen fällt in Algerien ein und reißt die Macht an sich, jedoch dauert es bis zum Herbst 1962, dass mit der Bildung einer Regierung unter dem Vorsitz von Ahmed Ben Bella eine gewisse Stabilität wiederhergestellt ist.
Letzterer lässt nach mehreren Verhandlungen mit den französischen Behörden und Agenten vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes zu, dass von 8. März bis 12. September 1963 eine Sonderuntersuchungsmission nach Algerien kommt, deren Untersuchungen schließlich nicht immer wirksam sind, denn sie finden etwa ein Jahr nach der Unabhängigkeit statt. Jedoch ist die Hoffnung der Familien und Angehörigen in Algerien und Frankreich, dass der Vermisste gefunden oder befreit wird, immer noch groß. Sie warten immer noch ab, da sie aufgrund der Ungewissheit des Schicksals der Person, die als „weder tot noch lebendig“ gilt, nicht die sogenannten „normalen“ Trauerphasen (Leugnen, Wut, Verhandeln-Wollen, Depression und Annehmen) durchmachen können. Manche schließen sich zum Beispiel in Verbänden zusammen und setzen sich für Nachforschungen ein oder schalten die zuständigen Behörden ein (wie zum Beispiel den französischen Botschafter in Algerien, den Minister für algerische Angelegenheiten, der bald schon vom Staatssekretär für algerische Angelegenheite ersetzt wird). Allerdings bleiben die französischen Behörden bei ihren Maßnahmen vorsichtig, da sie keine Klagen von Algeriern erhalten wollen, die durch die Armee oder allgemeiner die Ordnungskräfte verschwunden sind. Dann verteilen Sie ab 1965 am Ende ihrer Nachforschungen Urteile zur Feststellung des Todes, während in Algerien die Namen der Vermissten (aber auch der Toten) der FLN und der ALN auf dem 1982 errichteten Märtyrerdenkmal, dem Maqam Echahid, aufscheinen, das ihnen eine Grabstätte bietet. In diesem Jahr wird in Khenchela (nördlich von Aurès) ein neues Massengrab entdeckt - das sich auf dem Gelände eines Lagers der französischen Armee während des Algerienkriegs befindet. Algerier und Franzosen schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die tausenden (zwischen 1000 und 1200) Leichen zu, ohne dieses Rätsel lösen zu können. Darüber hinaus wurde eine Randgruppe algerischer Kämpfer und Zivilisten, die zwischen 1954 und 1962 verschwunden sind, aus der nationalen Geschichte ausradiert. Die Messalisten, die viele Vermisste in ihren Reihen zählen, unterlagen einer doppelten Spurenbeseitigung: Zum Verschwinden mancher Leichname kam eine „Verdammung der Erinnerung“. Am 18. Februar 1992 findet der erste „nationale Chahid-Tag statt. Algerien stürzt in diesem Jahr nach dem Stillstand des Wahlprozesses in ein dunkles Jahrzehnt und im Rahmen der Zusammenstöße zwischen bewaffneten islamistischen Gruppen und Geheimdienstagenten des Staates verschwinden erneut Menschen.
Dreißig Jahre nach Ende des Algerienkriegs bekommen Historiker Zugang zu den Archiven - insbesondere die Serie 1H des Historischen Dienstes der Landstreitkräfte - auch wenn jene des 2. Büros (Geheimdienst der französischen Armee) ausgenommen sind. Nach einer Zeit der Amnesie wird der Schleier von mehreren Episoden des Zeitraums von 1954 bis 1962 gelüftet, welche die Folter vom 17. Oktober 1961 betreffen oder auch das Drama der Harkis (von denen viele - die nicht nach Frankreich repatriiert wurden - infolge von Massakern, ihrer Entsendung an die Grenzen zur Entminung oder nach ihrer Anwerbung in der nationalen Volksarmee, die sich am Algerisch-Marokkanischen Grenzkrieg im Herbst 1963 beteiligte, verschwunden sind). Das am 5. Dezember 2002 im Rahmen einer Feier am Quai Branly eingeweithe „Nationaldenkmal für den Algerienkrieg und die Kämpfe in Marokko und Tunesien“ wird von vielen Familien und Angehörigen der Vermissten als Ort der Besinnung wahrgenommen. Die „Mauer der in Algerien gefallenen Vermissten ohne Grabstätte (1954-1963)“ in Perpignan ruft Kritik bei einem Verbandskollektiv, aber auch bei Hochschullehrern hervor. Dadurch kommt 2007 „der Gedenkkrieg“ wieder in Schwung, der bereits durch Gedenksteine angefacht wurde, die für die ehemaligen Mitglieder der OAS errichtet wurden... Die Gedenkgruppen, die politisch mal links, mal rechts eingestuft werden, sind auch in anderen Punkten uneins, wie dem Gedenktag für den Algerienkrieg. Allerdings ist der 19. März bei den Familien und Angehörigen der Vermissten und aller anderen Opfer der Monate nach dem Waffenstillstand umstritten. 2012 wird dieses Datum schließlich vom französischen Staatspräsidenten François Hollande gewählt (der jedoch jenes vom 5. Dezember, das offiziell von Jacques Chirac beschlossen wurde, nicht abgeschafft hat). Aufgrund der seither vergangenen Zeit setzen sie sich für einen anderen Kampf ein, in dem es um die Erlangung des Vermerks „für Frankreich gefallen“ geht.
Die Suche nach den Leichnamen wurde daher nach und nach durch eine geschichtliche Forschung ersetzt, die alle Kategorien von Vermissten des Algerienkriegs miteinbezieht. 2002 wird von Premierminister Jean-Pierre Raffarin die interministerielle Mission für Repatriierte gegründet, die zu einer statistischen Arbeit über die zivilen europäischen Vermissten führt, die 2011 vom Historiker Jean-Jacques Jordi veröffentlicht wurde. Die Anerkennung der Rolle der französischen Armee beim Verschwinden von Maurice Audin während der Schlacht von Algier durch den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron markiert 2018 einen neuen Schritt. Gleichzeitig kümmert sich das Ministerium für die Volksbewegung (Mojahedin) in Algerien um die Erfassung der Vermissten dieser Phase des Algerienkriegs, der durch die umfassende Praxis des Systems der Verhaftung-Inhaftierung gekennzeichnet ist. Im April 2020 wird vom Nationalarchiv ein Guide numérique sur les disparus de la guerre d’Algérie veröffentlicht, der die verfügbaren Bestände präsentiert, die alle Opfer in Algerien und in Frankreich zwischen 1954 und 1962 betreffen. Weitere laufende Forschungen - über die Soldaten (ein Gedenkstein für die Vermissten von Les Abdellys wurde 2015 am Friedhof Père-Lachaise errichtet), aber auch über die Vermissten der Schlacht von Algier - ermöglichen nunmehr eine „Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs“ und die Verfolgung von Einzelschicksalen nach der mikrogeschichtlichen Methode. In seinem Bericht an den französischen Staatspräsidenten vom Januar 2021 empfiehlt der Historiker Benjamin Stora unter anderem die Einrichtung einer gemischten franzöisch-algerischen Historikerkommission, um Licht in die Vermisstenfälle des Algerienkriegs zu bringen, was in einen Prozess der Übergangsjustiz aufgenommen werden könnte.
Die vielen Forschungsarbeiten und anerkannten Gedenken können zu einer gewissen Beschwichtigung bei den Familien und Angehörigen der Vermissten beitragen und im weiteren Sinne den Kampf gegen die Globalisierung des Verschwindenlassens ermöglichen, das von der UNO als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft wurde. So hat diese am 20. Dezember 2006 das internationale Übereinkommen zum Schutz aller Menschen vor dem Verschwindelassen beschlossen.
Soraya Laribi, Doktorin der Geschichte (Universität Sorbonne)