Direkte Auswirkungen und nachhaltige Folgen des Krieges von 1870
Im Vergleich zu damaligen anderen Kriegen - den Napoleonischen Kriegen und dem amerikanischen Bürgerkrieg einerseits und dem Ersten Weltkrieg andererseits - war der Krieg von 1870 ein kurzer Krieg. Er dauerte nur zehn Monate, in denen sechs tatsächliche Schlachten stattfanden. Ferner war er auf zwei Staaten, Frankreich und Deutschland, beschränkt und forderte relativ wenige Opfer - weniger als 200.000 Tote. Dennoch sollte er weitreichende Folgen sowohl im Inneren der betroffenen Staaten und im benachbarten Italien als auch auf Ebene der internationalen Beziehungen haben. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Erste Weltkrieg aus dem Krieg von 1870 hervorging, ja sogar einen Kreislauf der Kriege in Europa eröffnete, der erst 1945 enden sollte. Auch ist darauf hinzuweisen, dass er selbst mehr oder weniger aus den Kriegen der Revolution und des Kaiserreichs sowie aus der Niederlage hervorgeht, die Napoleon Preußen 1806 in der Schlacht bei Jena zugefügt hatte, und dem daraus resultierenden starken Nationalgefühl.
In Frankreich führen die Kapitulation von Sedan am 2. September 1870 und die Gefangennahme von Kaiser Napoleon III., der persönlich seine Armee befehligte, zwei Tage später zum Sturz des Zweiten Kaiserreichs durch die Pariser. Die republikanische Regierung der nationalen Verteidigung, die damals die Zügel des Landes in die Hand nahm und die Fortführung des Krieges beschloss, war jedoch nicht erfolgreicher als das Kaiserreich, trotz der Tatkraft von Léon Gambetta. Nach dem Vorfrieden vom Februar 1871 lehnt die Pariser Bevölkerung, die eine lange, schwierige Besetzung seit Mitte September ertragen hatte, die Abgabe der Kanonen ab, welche die Hauptstadt schützen. Es folgt ein Aufstand der Kommune, der sich in einen Bürgerkrieg verwandelt und in einem Blutbad endet (März bis Mai 1871). Dieses hat bleibende Spuren bei den Menschen hinterlassen. Die Republik, der es gelungen war, Frieden zu schließen und die Ordnung wiederherzustellen, schlägt anschließend eine konservative Richtung ein, die sie den Sozialisten entfremdet, ihr aber ermöglicht, die Massen der Landbevölkerung einzubinden, die damals die Mehrheit der Franzosen bildete, auch wenn es noch etwa zehn Jahre dauert, bis sie sich nachhaltig an den Urnen durchsetzt.
Napoleon III. übergibt Wilhelm I. seinen Degen.. GAnonyme amerikanische Radierung aus 1871. Library of Congress
Der Frankfurter Friede vom 10. Mai 1871, der Frankreich die Zahlung einer Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Goldfranken auferlegt sowie die Besetzung eines Großteils seines Staatsgebietes bis zur schlussendlich vollständigen Zahlung dieses bis dahin einmalig hohen Preises im September 1873 und vor allem den Verlust von Elsass-Lothringen festlegt, hat sowohl eine kollektive Niedergeschlagenheit aufgrund der Erniedrigung durch das Debakel als auch einen starken Revanchewillen zur Folge.
Die letzten Kartuschen, Alphonse de Neuville, 1873. Haus der letzten Kartusche, Bazeilles
Kraft eines deutschen Gesetzes vom Februar 1872 und eines französischen Gesetzes vom April 1873 beginnen Frankreich und das deutsche Elsass-Lothringen überall Beinhäuser und Kriegsdenkmäler zu errichten, was ein bis dahin wenig verbreitetes Phänomen war. Die 1887 gegründete Gesellschaft Le Souvenir français spielt bei der Erhaltung der Erinnerung an den Krieg von 1870 und an jene, die ihr Leben für die Heimat geopfert haben, eine große Rolle. Erste literarische Werke, Gemälde oder Skulpturen heben schon ab 1871 in großer Zahl das französische Heldentum hervor. Zwei der bekanntesten Zeugnisse sind dafür zweifelsohne das Gemälde der Letzten Kartuschen von Alphonse de Neuville (1873) und die monumentale Statue des Löwen von Belfort, die von Auguste Bartholdi zwischen 1875 und 1880 errichtet wurde und an den heldenhaften Widerstand der Stadt unter Befehl von Oberst Denfert-Rochereau erinnert. Außerdem beschloss die Nationalversammlung mit monarchistischer und katholischer Mehrheit im Juli 1873 den Bau der Basilika Sacré Cœur auf dem Montmartrehügel als nationales Projekt, um Frankreich die Buße für seine Fehler zu ermöglichen, von dem durch Napoleon III. beschlossenen Eintritt in den Krieg bis zur Kommune, deren Bastion ausgerechnet Montmartre war. Das Scheitern der Eliten führt zu einem Nachdenkprozess über deren Ausbildung, der unter anderem im Februar 1872 zur Gründung der Freien Schule für Politikwissenschaften durch Émile Boutmy führt, die eine interdisziplinäre Sichtweise und eine bis dahin in Frankreich noch nie dagewesene internationale Öffnung beinhaltete. Vor allem Schule und Armee werden zu den Grundfesten der jungen Dritten Republik und ermuntern die Franzosen, ihre Augen niemals von der blauen Linie der Vogesen abzuwenden, welche die Grenze zum verabscheuten Reich bildet.
Der Löwe von Belfort, Frédéric Auguste Bartholdi
Die durch den Krieg im August 1870 erzwungene Rückkehr der französischen Truppen, die den Kirchenstaat schützten, ermöglichte den Italienern die Fortsetzung ihrer Einheitsbestrebungen, indem sie die Stadt Rom am 20. September 1870 einnahmen und die Ewige Stadt wenige Monate später zur Hauptstadt ihres Königreichs machten. Papst Pius IX. sieht sich nunmehr als Gefangener im Vatikan. Die daraus resultierende schwere Krise mit dem Königreich Italien findet erst 1929 mit den Lateranverträgen ihr Ende, die dem Papst die Souveränität über die Vatikanstadt im Gegenzug für seine Anerkennung des Königreichs gewähren.
Die Folgen des Krieges von 1870 sind jedoch in Deutschland am größten. Wie von Bismarck, dem preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes beabsichtigt, hat dieser Konflikt, dessen Initiierung durch das französische Kaiserreich ihm mit einer geschickt eingefädelten Provokation (der Emser Depesche) gelang, die Deutschen rund um Preußen zusammengeschweißt, was zuvor aufgrund lokaler Einzelinteressen, konfessioneller Spaltungen und der Angst vor einer Berliner Vorherrschaft, die insbesondere in Bayern und im Land Baden vorherrschte, bei weitem nicht erreicht werden konnte.
Am 18. Januar 1871 lässt Bismarck für seinen König Wilhelm von Hohenzollern im Spiegelsaal von Schloss Versailles das Deutsche Reich, das Zweite Reich, proklamieren. Damit nahm er Rache an Ludwig XIV., der zwei Jahrhunderte zuvor die Pfalz geplündert hatte. Auch wenn der neu entstehende Staat ein Staatenbund ist, dessen Mitglieder zahlreiche Befugnisse behalten, stellt die deutsche Einigung in der europäischen, ja sogar weltweiten Geschichte ein wichtiges Ereignis dar. Denn die Vorherrschaft auf dem Kontinent geht von Frankreich auf Bismarcks Deutschland über. Der Stolz des Volkes drückt sich in der Gründung des Reichslandes Elsass-Lothringen aus, das zum gemeinsamen Gut aller Deutschen erhoben wurde, und im neuen Nationalfesttag, dem Sedantag. In den folgenden Jahrzehnten verzeichnete Deutschland ein spektakuläres Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum. Dem Reichskanzler gelingt es vor allem, Frankreich auf der internationalen Bühne völlig zu isolieren.
Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Schloss Versailles, Anton von Werner, 1885. Bismarck-Museum
Dazu trägt das republikanische Regime in Paris bei, das einem fast völlig monarchischen Europa Angst macht und das starke Gefühl vermittelt, dass Frankreich Revanche nehmen möchte, wie es das Militärgesetz von 1872 suggeriert.
Bismarck nutzt dies, um im September 1872 ein Treffen zwischen seinem Kaiser Wilhelm I., dem österreichisch-ungarischen Kaiser Franz Joseph und Zar Alexander II. zu organisieren. Trotz der Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Russland, die beide die Schwächung des Osmanischen Reiches zu einer Erweiterung am Balkan nutzen wollen, wird zwischen den drei Mächten im folgenden Jahr ein Verteidigungsbündnis geschlossen. Der Beitritt Italiens zu diesem Dreikaiserbund 1874 und die britische Enthaltung führten zur Isolation Frankreichs. Nach der Balkankrise und dem Berliner Kongress vom Sommer 1878, der Wien und St. Petersburg entzweit, beschließt Bismarck daher, die Beziehungen zwischen Berlin und Wien zu verstärken, da er Österreich-Ungarn für sicherer hält und es Deutschland näher als Russland ist. Es gelingt ihm, die Bedenken Wilhelms I., der an dem russischen Bündnis festhalten möchte, zu zerstreuen und sein neues System einzuführen.
Der Berliner Kongress, 13. Juli 1878, Anton von Werner, 1881. In der Mitte rechts stehend: der Ungar Andrássy, Bismarck und der Russe Schuwalow. Berliner Rathaus, Berlin
Am 7. Oktober 1879 wird der Geheimvertrag über den Zweibund unterzeichnet. Es handelt sich um ein militärisches Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn für den Fall, dass eine der beiden Mächte von Russland oder einem seiner Verbündeten angegriffen wird. Dieses garantiert unter anderem die Neutralität des Partners im Falle eines Angriffs durch ein anderes Land. Bismarck erreicht außerdem, dass der neue Zar Alexander III. am 18. Juni 1881 den Dreikaiserbund unterzeichnet. Sollte eine der drei Mächte gegen eine vierte in den Krieg ziehen, legt dieser Vertrag fest, dass die beiden anderen eine wohlwollende neutrale Position einnehmen. Im darauffolgenden Jahr tritt Italien, das wegen Tunesien in einem gespannten Verhältnis zu Frankreich steht, dem System bei. Der Vertrag, der das Dreierbündnis bzw. den Dreibund zwischen Berlin, Wien und Rom bildet, wird am 20. Mai 1882 abgeschlossen. Darin ist vorgesehen, dass Deutschland und Österreich-Ungarn Italien zu Hilfe kommen, wenn es von Frankreich angegriffen wird. Im Gegenzug soll Deutschland Italien unterstützen, wenn dieses in einen Krieg gegen Frankreich eintritt und Österreich-Ungarn, wenn Letzteres von Russland oder Frankreich angegriffen wird.
Bismarck gelang das Kunststück, dass sich einerseits Russland mit Österreich-Ungarn und andererseits Italien mit Österreich-Ungarn verträgt. Berlin und London haben einen guten Draht zueinander, während die französischen und britischen Interessen in Ägypten hart aufeinanderprallen. Darüber hinaus hat Deutschland ein Bündnis mit Rumänien geschlossen und unterhält freundschaftliche Beziehungen zu Spanien, der Türkei und Serbien. Mit der Verlängerung des Dreikaiserbundes 1884 und des Dreibunds 1887, dem teilweise auch England und Spanien beigetreten sind, um die französischen Ambitionen im Mittelmeer in Schranken zu halten, erreicht das bismarcksche System seinen Höhepunkt. Frankreich scheint diesmal völlig eingekreist zu sein.
Otto von Bismarck. Quelle: Deutsches Bundesarchiv
Nachdem Frankreich scheinbar die blaue Linie der Vogesen vergessen hat, um sich unter Jules Ferry der Kolonialexpansion in Afrika und Asien zuzuwenden, räumt es nach dem Sturz des Ratspräsidenten im März 1885 jedoch erneut kontinentalen Fragen den Vorrang ein. Zwei Jahre später führt die Schnäbele-Affäre Frankreich und Deutschland an den Rand eines Krieges. Der Polizeikommissar in einer grenznahen Ortschaft ist auch Agent des französischen Geheimdienstes. Bismarck beschließt in dieser Sache entschlossen zu handeln, da er die nationalistische Meinung vor den nahenden deutschen Parlamentswahlen befriedigen möchte. Der Spion wird, nachdem er in einen Hinterhalt gelockt wurde, von deutschen Polizisten auf französischem Staatsgebiet verhaftet. In Frankreich gehen die Wogen hoch und der Kriegsminister, General Boulanger, erwägt eine Teilmobilmachung. Die Ruhe des französischen Staatspräsidenten Jules Grévy und die Entscheidung Bismarcks, Schnäbele freizulassen, entschärfen unter den gegebenen Umständen die Gefahr, jedoch geht der nationalistische Fanatismus nicht mehr zurück und der Boulangismus nimmt seinen Anfang.
Jenseits des Rheins werden ein drohender Staatsstreich durch „General Revanche“ und ein möglicher Krieg Frankreichs zur Rückeroberung Elsass-Lothringens mehr denn je ernst genommen. Dennoch beschließt der neue deutsche Kaiser Wilhelm II. ein stärkeres Engagement seines Land in einer weltweiten Expansionspolitik, die dem Rang der großen Wirtschafts- und Militärmacht, zu der Deutschland geworden ist, seiner Meinung nach besser gerecht wird. Der 1815 zur Zeit des Wiener Kongresses geborene ehemalige Kanzler Bismarck, der vor allem Europäer blieb und, bis zu einem gewissen Grad von einer möglichen Revanche Frankreichs besessen war, wird im März 1890 zum Rücktritt gezwungen. In dem auf seinen Sturz folgenden Vierteljahrhundert wird die Triple Entente als Gegenpol zum Dreibund eingerichtet. Der Erste Weltkrieg geht aus der Gegnerschaft der beiden Kriegführenden von 1870 und der gegnerischen Blöcke hervor, die sich rund um diese jeweils gebildet haben.
Ausschnitt aus dem Panorama, das die Internierung der Bourbaki-Armee in der Schweiz zeigt, Édouard Castres, 1881-1885. Museum in Luzern.
Der Krieg von 1870 beschleunigt jedoch auch die Entwicklung des humanitären Völkerrechts. Dieses verzeichnete mit der Genfer Konvention seine ersten Erfolge, die im August 1864 infolge des Krimkrieges, des italienischen Krieges und der Expedition nach Syrien sowie mitten im amerikanischen Bürgerkrieg den Schutz verletzter Soldaten beschließt. Auf Initiative von Zar Alexander II. wird anschließend die Brüsseler Konferenz im Juli und August 1874 abgehalten, deren direkter Ursprung im Krieg von 1870 zu suchen ist. In deren Verlauf werden erstmals die Gesetze und Gebräuche des Krieges wirklich kodifiziert. Gleichzeitig hat im Januar 1871 der Übertritt der auf der Flucht vor den Deutschen befindlichen, besiegten Bourbaki-Armee in die Schweiz, ein neutrales Land, ein noch nie dagewesenes rechtliches Problem geschaffen und führt zu bilateralen Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz. All dies wird in den zwei großen Haager Konventionen (Juli 1899 und Oktober 1907) verankert, die ebenfalls aus dem Krieg von 1870 hervorgehen und von denen die meisten Artikel heute noch in Kraft sind!