Ein Karren steht bereit
Am 30. August 1944 werden Henri Chamberlin alias ”Henri Lafont” und einige seiner Komplizen von der “französischen Gestapo der rue Lauriston” in Seine-et-Marne verhaftet. Schon seit mehr als drei Jahren sammelt das BCRA Informationen über jenen, der das Pariser “Milieu” während der Besatzung beherrschte. Die Akte, die der SHD aufbewahrt, informiert uns über den Hintergrund dieser Affäre und wirft ein neues Licht auf den Prozess, der zur Hinrichtung einer der gefürchtetsten Personen dieser Periode geführt hat.
Von der Mafia zur ”Gestapo”
Lafont verdient diese Aufmerksamkeit. Ein kleiner Gauner ohne besondere Eigenschaften wird plötzlich zum Leiter eines Polizeidienstes während der Besatzung. Von da an können die Ordnungsorgane nichts mehr gegen ihn unternehmen. Drei Jahre lang, an der Spitze einer Truppe, die fast gänzlich aus Gaunern und korrupten Polizisten wie Pierre Bonny besteht, ist er ökonomisch gesehen sehr gut unterwegs: Enteignung jüdischen Eigentums und Affären mit falschen Polizisten, Erpressung und illegaler Handel auf dem Schwarzmarkt im großen Rahmen, Erpressung bei Verhaftungen und bezahlte Freilassungen, illegale Durchsuchungen und Einbrüche, bewaffnete Überfälle und Hehlerei. Aber insbesondere die ”Carlingue” ist ein sehr aktives Element des deutschen Unterdrückungsapparates: Verhaftung von Patrioten, feindliche Fallschirmabwürfe, Entdeckung von Waffen- und Munitionslagern, Angriffe gegen Widerstandsorganisationen wie Défense de la France, Expeditionen gegen Partisanengruppen in der Dordogne und im Limousin, Folter und Ermordung von Gefangenen...
Ab August 1941 treffen Informationen über Lafont und seine Truppen ein. Drei Jahre lang häufen sich Synthesen, Notizen, offizielle Berichte der Polizei, nach London gesendete Fernschreiben, die sich zu einem Dossier hinzufügen, das nur eine Frage aufwirft: Wie konnte ein derartiger Gauner an eine solche Stelle gelangen?
Insgesamt stellt diese Akte eine unglaubliche Sammlung von Informationen dar, in der man genaue Beschreibungen inmitten vieler Irrtümer entdeckt.
Fakten und Fehler: Die “falschen Nachrichten” des Aufklärungsdienstes
Ja, Henri Lafont ist ein Gauner, der mehrmals vor dem Krieg für geringe Straftaten verurteilt wurde. Ja, im Dienste der Besatzung wird er Leiter eines offiziellen Polizeidienstes. Ja, die Truppe von Lafont besteht aus berüchtigten Individuen, ehemaligen, korrupten Polizisten und Mafiabossen (siehe Tonbildschau), deren originelle Pseudonyme nicht ihre Gefährlichkeit überdecken sollte. ”Jean le Chauve”, ”Robert le Pâle”, ”André la Rigole”, ”Jean la Soubrette”, ”Abel le Mammouth”, ”Michel Nez rouge”, ”Raymond des Roses”, ”Charlot le Fébrile”, ”Paulo la Gamberge”... Ja, Lafont hat zu dem Zeitpunkt eine gewisse Macht: Er kennt die hochgradigen deutschen Offiziere während der Besatzung in Paris, er verkehrt mit dem Regierungschef in Vichy, Pierre Laval, aber auch mit dem Generalsekretär der Polizei, René Bousquet oder dem Polizeipräfekten Amédée Bussière. Ja, er verbringt seine Abende mit Ministern, bekannten Journalisten, Geschäftsmännern und deutschen Amtsträgern. Ja, der Schwarzhandel, den er betreibt, beläuft sich auf hunderte Millionen Francs.
Aber nein, Lafont regiert nicht eine Truppe von 900 Personen: An ihrem Höhepunkt, 1944, hat seine Bande nicht mehr als 300 Mitglieder. Nein, Lafont ist kein Vertrauter Hitlers und nichts lässt darauf schließen, dass er den zukünftigen Führer im Zuge seiner Inhaftierung im Gefängnis von Landsberg am Lech 1924 kennengelernt hat. Nein, sein Dienst untersteht nicht direkt Himmler, sondern einer genau definierten Hierarchie, die sich im Zuge seiner administrativen Laufbahn und der Neuordnungen der deutschen Dienste verändert (Abwehr bis Mai 1942 und dann SIPO-SD). Zugleich müssen auch die Fähigkeiten des Mannes und seine Rolle im deutschen Unterdrückungssystem relativiert werden.
Von der ”Gestapo” zum Exekutionskommando
Als der Leiter der ”Carlingue” am 30. August 1944 von den FFI und Agenten des Nachrichtendienstes der Polizeipräfektur unter Leitung des Kommissars Clot verhaftet wird, erscheint der Fang sehr erfolgreich. Sofort interessiert sich die DGER für ihn: Vielleicht verfügt er über Informationen. Der Dienst möchte gerne ausnutzen, was ihm zu dem Zeitpunkt als “eine bedeutende Quelle an Informationen” erscheint. Die Enttäuschung war enorm: Chamberlin war ein eifriger Ausführer schrecklicher Entscheidungen, aber nie in einer entscheidenden Position. Für den Leiter des 2. Büros der Direktion der Dokumentardienste scheint das Urteil eindeutig. Der Betroffene hat die Organe der Abwehr oder der SIPO-SD sehr wenig gekannt, abgesehenen von jenen, die jeder kannte. Die Manöver von Chamberlain, um seinen Kopf zu retten, sind sinnlos: Der Kommandant Thomas bewertet sie “so kindisch, dass sie keine kritische Bewertung verdienen” (siehe Tonbildschau).
Jetzt kann nichts mehr den ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter retten, nachdem insbesondere die Presse seiner Verhaftung Nachdruck verliehen hat. Am 4. Oktober verkündigt eine Pressenotiz der Polizeipräfektur, dass “in acht Tagen Herr Cloret bereit sei, für eine erste Lieferung von zwanzig Personen” an die Justiz (siehe Tonbildschau). Nur zwei Monate später wird Chamberlin vom Gerichtshof der Seine zum Tode verurteilt und am 26. September in der Festung Montrouge in Arccueil erschossen (siehe Tonbildschau).
Grégory Auda
Chefredakteur der Revue Les Chemins de la mémoire
WEITERE INFORMATIONEN
Die komplette Akte über Henri Chamberlin ist unter dem Aktenzeichen GR 28 P 9 883 im Lesesaal einsehbar.
Die Archive der Polizeipräfektur in Paris enthalten ebenfalls Dokumente zu dieser Affäre.