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Entstehung und Wandel der Erinnerungspolitik in Deutschland

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Woran erinnert man sich, wenn man in Deutschland über die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts spricht? Auf der anderen Seite des Rheins hat die Erinnerungskultur einen besonderen Stellenwert. Das Land (zumindest Ostdeutschland) hat zwei Weltkriege und zwei totalitäre Regimes erlebt, was sich auch in der tragischen Vergangenheit widerspiegelt. Die Erinnerung an diese Ereignisse unterscheidet sich heute jedoch in vielerlei Hinsicht.

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Die deutsche Erinnerungskultur wird im Ausland manchmal als überdimensioniert wahrgenommen, da das Land in der Nachkriegszeit auf der Grundlage der Wiederentdeckung aufeinanderfolgender Etappen in der Geschichte wiederaufgebaut wurde, die im Laufe der Zeit durch Vergangenheitsbewältigung und die Weigerung, zu vergessen, immer weiter ergänzt wurden. Die Medien dafür waren zahlreich und Filmemacher, Schriftsteller oder Akteure der Zivilgesellschaft spielten mitunter eine wichtigere Rolle als die Wissenschaft oder die Universitäten. Die westdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit basierte auf der Idee des demonstrativen Einvernehmens zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten, so dass jeder historische Fortschritt, der diesen Prozess untergrub, insbesondere in den 1970er Jahren, Gegenstand von Verhandlungen sein musste, um in ein neues gesellschaftliches Schema integriert zu werden. Bei dieser Vergangenheitsbewältigung lassen sich mehrere Sequenzen unterscheiden: das relative Vergessen des Ersten Weltkriegs und die Allgegenwart des Zweiten Weltkriegs, bei dem die Erinnerung an die militärischen und zivilen Opfer nicht denselben Verlauf nimmt.

Wenn es eine Gewissheit gibt, dann ist es die, dass es zweifellos eine Ungleichheit zwischen Frankreich und Deutschland in Bezug auf die „Kriegserinnerungen" gibt. Die erste fällt sofort auf, wenn man die beiden Länder physisch bereist: Die beiden Kriege, die nicht auf deutschem Boden stattfanden - in diesem Fall der Krieg von 1870, der zur Ausrufung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles führen sollte, und der Krieg von 1914-1918, der mit dem nicht minder berühmten Vertrag von Versailles enden sollte - werden relativ gleichgültig betrachtet.

 

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Deutsche Infanteristen auf dem Weg zur Front, Postkarte mit dem Titel: „Aussehen der deutschen Truppen, wenn sie
in den Schützengraben gehen". Foto (Paul Hoffmann), 1914. © akg-images

 

Das relative Vergessen der ersten deutsch-französischen Konflikte

Was den Krieg von 1870-1871 betrifft, so ist er das Opfer seiner Entfernung in die Vergangenheit und des Regimes des Präsentismus (ein zeitlicher Bezug, der darin besteht, der Gegenwart einen überproportionalen Platz einzuräumen), dessen Zunahme François Hartog seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs feststellt.

Die einzigen sichtbaren Spuren sind häufig Massengräber oder Kenotaphen auf den alten deutschen Friedhöfen. Das Jahr 2021 war zudem Anlass für zwei virtuelle Ausstellungen in Dresden („Krieg macht Nation. Wie das Deutsche Kaiserreich entstand", im Militärmuseum) und in Hannover („Hannover und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71", im Historischen Museum), aber das Thema interessiert vor allem Fachleute.

Noch erstaunlicher war bis zur Hundertjahrfeier die Tatsache, dass der Erste Weltkrieg in der Öffentlichkeit praktisch nicht vorkam. Es ist übrigens bemerkenswert, dass es in Deutschland viel weniger Historiker gibt, die sich mit diesem Thema befassen, als solche, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Obwohl es sich dabei um die „Urkatastrophe" des kurzen 20. Jahrhunderts handelte, um George F. Kennan zu zitieren, wurde er in der Erinnerung der Deutschen weitgehend verdrängt. Die Schrecken der Bombennächte und Evakuierungen während des Zweiten Weltkriegs haben die Erinnerung an die Schützengräben und Schlachtfelder an der Somme und bei Verdun ausgelöscht. Denn im Gegensatz zu den Belgiern oder Franzosen haben die Deutschen den Ersten Weltkrieg nicht auf eigenem Territorium erlebt. Abgesehen von der Existenz einer Kriegskultur, die auch Kinder betraf, kannten viele Bürger des Kaiserreichs den Krieg nur in Form von nüchternen Todesanzeigen, zensierten Postkarten und Versorgungsengpässen, von denen alle Beteiligten betroffen waren. Seit mehr als einem halben Jahrhundert wird an einer umfassenden Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs gearbeitet. Die erste und eine der umstrittensten war die des Historikers Fritz Fischer, der in den 1960er Jahren die These untermauerte, dass die Deutschen die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trugen. Damit löste er eine internationale Debatte aus, die so genannte „Fischer-Kontroverse", die zu einer gesellschaftlichen Debatte in der Bundesrepublik Deutschland wurde, aber auch in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) überschwappte. Ein Buch hat das Interesse am Ersten Weltkrieg 2014 neu entfacht: das Buch des australischen Historikers Christopher Clark, das in Deutschland zwischen Oktober 2013 und Mai 2014 200.000 Mal verkauft wurde. Darin analysiert er den Krieg als „vermeidbares Ergebnis einer dichten Folge von Ereignissen und Entscheidungen" und hat Deutschland damit teilweise von seiner Schuld entlastet. Seit François Mitterrand und Helmut Kohl Hand in Hand in Verdun versuchten, einen neuen Anstoß zu geben, hat sich die Bundesregierung bisher eher zurückhaltend gezeigt, wenn es um große nationale Gedenkfeiern zum Kriegsausbruch vor über 100 Jahren ging.

 

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Eröffnung der Ausstellung über den Ersten Weltkrieg durch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel
im Berliner Historischen Museum, 28. Mai 2014. © Thomas Peter/AFP

 

In Deutschland eignet sich der Erste Weltkrieg nicht für die Schaffung nationaler Mythen - und schon gar nicht zum Feiern.

Der Zweite Weltkrieg zwischen militärischem und zivilem Gedenken

Der Zweite Weltkrieg war der Dreh- und Angelpunkt für den Wiederaufbau des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung führte er jedoch zu zwei zeitversetzten Erinnerungen, die sich manchmal trafen, aber auch asynchron sein konnten. Sie sind aber auch genau auf die Eigenarten des Krieges zurückzuführen, der wie der erste große Konflikt des 20. Jahrhunderts neben den enormen militärischen Verlusten auch die Zivilbevölkerung betraf, allerdings in einem bis dahin unbekannten Ausmaß: Über fünf Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, der Luftkrieg hatte in Deutschland etwa 570.000 Opfer gefordert und etwa 14 Millionen Deutsche waren aus den damaligen deutschen Ostgebieten geflohen oder vertrieben worden. Fast sechs Millionen Juden wurden ermordet, ebenso wie Hunderttausende Roma und Sinti, Menschen mit Behinderungen und Kranke.

Die Erinnerungskultur für die Toten, die der Armee angehörten, wurde zunächst von den Soldaten selbst gestaltet. Man erinnere sich daran, dass die 1950er Jahre die Jahre der bewussten Verdrängung waren, die durch die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards und das so genannte Wirtschaftswunder symbolisiert wurde. Man bedenke auch, dass die Deutschen versuchten, eine neue Identität mit nichtmilitärischen Mitteln aufzubauen, wie der überwältigende Stolz über den Sieg der deutschen Fußballmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1954 beweist.

Das Gedenken an die Toten war in den 1950er Jahren entweder eine private Angelegenheit oder eine militärische Angelegenheit, die auf bessere Zeiten wartete. Die Bundeswehr wurde in den Jahren 1955-1956 in einer bis dahin unbekannten Konstellation neu aufgestellt, die eine direkte Folge des blinden Gehorsams war, den viele deutsche Soldaten angesichts der ihnen befohlenen Massaker gezeigt hatten. Es ging darum, im Rahmen der NATO wieder eine deutsche Armee aus uniformierten Bürgersoldaten aufzustellen, die in der Lage sein sollten, Befehle zu verstehen, bevor sie diese ausführen. Allerdings gab es ein Paradoxon in diesem Bestreben, die Militärkultur zu erneuern, übrigens sowohl im Westen als auch im Osten: Es war vor allem das Personal der Wehrmacht, das im Dritten Reich gedient hatte, das die neue Struktur umsetzte. Auf diese Weise wurde die Kontinuität des Gedenkens gewahrt und fortgeführt.

Einige Kasernen wurden nach Generälen benannt, die während der Hitlerzeit blind gedient hatten, während die Offiziere des Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hitler als Verräter aus dem kollektiven militärischen Gedächtnis verbannt wurden. Da der größte Teil der deutschen Bevölkerung kein Interesse an militärischen Dingen hatte, entsprach die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zunächst der von den Soldaten vermittelten Erinnerung, was sich erst in den 1970er Jahren änderte.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Tradition, die ohne viel zeitlichen Abstand von der Wehrmacht an die Bundeswehr weitergegeben worden war, gemäß einem Erlass aus dem Jahr 1965 in Frage gestellt. Da sich das historische Wissen über die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erheblich weiterentwickelt hatte, wurde dieser Erlass 1982 durch ein weiteres Dokument ergänzt, das die Ausrichtung des militärischen Gedenkens in den dreißig Jahren nach dem Krieg in Frage stellte. Darin wurde festgelegt, dass nur das, was mit dem Grundgesetz, also der deutschen Verfassung, vereinbar ist, würdig sei, Teil der Traditionen der Bundeswehr zu sein.

Die Trennung zwischen zivilen und militärischen Werten wurde abgeschafft und damit unterstrichen, dass von den Soldaten nunmehr Toleranz, Friedensbereitschaft und eine Form des bewussten Gehorsams gefordert wurden, was die Bereitschaft zu kämpfen keineswegs ausschloss. Die Beziehungen zwischen der Bundeswehr und den Veteranen der Wehrmacht wurden immer lockerer, insbesondere mit den von den ehemaligen Mitgliedern der Waffen-SS ausgehenden Bewegungen. Da es keine klareren Regelungen gab, wurde die Frage der Tradition in den 1980er und 1990er Jahren unter den Teppich gekehrt.

Ein weiterer Schock erfolgte mit den Wanderausstellungen von 1995 und 2004 über die Verbrechen der Wehrmacht, um der breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass es im Dritten Reich nicht zwei Armeen - eine mit ideologischen und eine mit ethischen Maßstäben - sondern nur eine einzige gegeben hatte. 2018 veröffentlichte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen einen Erlass, der den Erlass von 1982 erweiterte und neue Gegebenheiten wie das Ende des Kalten Krieges, die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Auflösung der Volksarmee der DDR oder das Ende der Wehrpflicht einbezog.

 

NOUVELLE GARDE
Die Neue Wache ist ein bundesweites Denkmal für die Opfer von Kriegen und Tyrannei.  © DR

 

Es ist offensichtlich, dass die Problematik des militärischen Gedenkens in der Bundesrepublik mit dem Rahmen zusammenhing, in dem die Soldaten gefallen waren, insbesondere wenn es sich um kriminelle Handlungen handelte, so dass jede Errichtung eines moralisch symbolisierten Denkmals vor der Umgestaltung der Neuen Wache in Berlin im Jahr 1993 verhindert wurde. Drei Denkmäler für das Heer, die Luftwaffe und die Marine wurden im Übrigen zwar eingeweiht, doch blieb der Totenkult dabei sehr vage, um nicht auf den politischen Kontext zu verweisen.

 

La Neue Wache Pieta
„Die Mutter und ihr toter Sohn", berühmte Pieta, Skulptur von Käthe Kollwitz, ausgestellt in der Neuen Wache. © DR

 

Einer der Wendepunkte in der Aufarbeitung war zweifellos die Gedenkrede des Bundespräsidenten Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985, in der er die verschiedenen militärischen und zivilen Opfergruppen aufzählte. Dieser Moment wurde international begrüßt. Seitdem werden am Volkstrauertag sowohl Soldaten als auch zivile Opfer geehrt, wobei letztere vor allem das Mitgefühl der breiten Öffentlichkeit auf sich ziehen. In einem geopolitischen Kontext, in dem sich die Europäische Union allmählich durchsetzt und die Bundeswehr eine größere Rolle spielen muss, sei darauf hingewiesen, dass Angela Merkel 2006 den Volkstrauertag im Gedenken an die Soldaten der beiden Weltkriege, aber auch an diejenigen, die in Auslandseinsätzen ihr Leben verloren haben, begangen hat. Man kann auch das am 8. September 2009 im Verteidigungsministerium in Berlin vorgestellte Denkmal erwähnen, das erste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das den Soldaten beider Kriege gewidmet ist, aber auch all jenen, die, ob Zivilisten oder Soldaten, im Dienst ihr Leben verloren haben.

Die Erinnerung an die Opfer des Dritten Reichs

Während das Gedenken an die im Kampf getöteten Soldaten Schwankungen unterlag - sie standen im Dienst eines totalitären Regimes -, erfuhr die Frage der Opfer des Nationalsozialismus, die eng mit dem Schrecken des Konflikts verbunden war, ebenfalls eine allmähliche Anerkennung, allerdings im viel breiteren Rahmen der deutschen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Es ist nicht möglich, in wenigen Zeilen die Komplexität dieses Themas nachzuvollziehen, sondern lediglich die Grundzüge zu skizzieren. Die Nürnberger Prozesse waren der erste Schritt in dieser Erinnerungsarbeit, um die Verurteilung eines ganzen Volkes zu vermeiden. Gemäß der Satzung des Internationalen Militärgerichtshofs vom 8. August 1945 umfassten die Anklagepunkte: Verbrechen „gegen den Frieden", was vor allem die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges bedeutet; Kriegsverbrechen wie Mord, Misshandlung, Deportation von Zivilisten oder Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit, Geiselmord, Plünderung, Zerstörung von Städten und Dörfern; und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die vor allem Mord, Ausrottung, Versklavung der Zivilbevölkerung und Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen umfassen. Während der 1950er und 1960er Jahre zog es die deutsche Gesellschaft vor, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, bevor sie im Zuge der Generationenkonflikte von 1968/69 und der internationalen Entwicklung der Erinnerungsarbeit von ihrer Vergangenheit eingeholt wurde.

Nachdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1968 ein Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verabschiedet hatte, verlängerte der Bundestag die Verjährungsfrist für Kriegsverbrechen auf 30 Jahre und gab der Justiz damit die Möglichkeit, bis Ende 1979 gegen bis dahin unaufgeklärte Urheber von NS-Verbrechen zu ermitteln. Im Juli 1979 schließlich folgte der Bundestag dem internationalen Standard und beschloss, dass diese Verbrechen nicht mehr der Verjährung unterliegen, d. h. sie können auch dann verfolgt werden, wenn das Verbrechen Jahrzehnte zuvor begangen wurde und der Täter in der Zwischenzeit selbst zu einer betagten Person geworden ist.

 

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Denkmal für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus, Berlin, 19. September 2019. Auf der Vorderseite des Würfels befindet sich ein Fenster,
durch das die Passanten einen Kurzfilm sehen können, in dem sich zunächst zwei Männer und dann zwei Frauen küssen. © DR

 

Die Entschädigung der Opfer und damit ihre Aufnahme in den Erinnerungsraum erfolgte nach und nach in den Jahren nach dem Krieg: Ab 1947 konnten jüdische Opfer die Rückgabe ihres geraubten Eigentums verlangen. 1956 verabschiedete der Bundestag das Bundesentschädigungsgesetz, das bis 1965 mehrmals verlängert wurde. Etwa eine Million Menschen, hauptsächlich deutsche Juden, die in Konzentrationslagern und Ghettos gefangen gehalten worden waren und den Holocaust überlebt hatten, erhielten Entschädigungen in Höhe von etwa 43 Milliarden Deutsche Mark (DM). Insgesamt wurden bis 2002 etwa 60 Milliarden DM von der Bundesrepublik an Opfer von Verfolgungen während des NS-Regimes gezahlt. Zum Vergleich: Die finanziellen Vorteile, die deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten aufgrund des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 genossen, beliefen sich auf 104 Milliarden DM.

Roma und Sinti mussten bis in die 1960er Jahre warten, bis der Bundesgerichtshof die frühere Rechtsprechung umkehrte und auch Gewalttaten vor 1942 in die Entschädigungszahlungen einbezog. Es bedurfte bis in die 1980er Jahre hinein erheblichen politischen Drucks, damit alle Betroffenen eine Entschädigung erhielten. Die letzten Gruppen, die als Opfer des zweiten großen Konflikts des 20. Jahrhunderts anerkannt wurden, waren zum einen die Millionen ehemaliger Zwangsarbeiter in den 1990er Jahren, als Sammelklagen einiger von ihnen deutsche Unternehmen in den USA bedrohten, die Industrie einlenkte und die damalige rot-grüne Bundesregierung einen verfahrensrechtlichen Weg für Entschädigungszahlungen suchte. Schließlich wurden auch die homosexuellen Opfer des NS-Regimes, die ebenfalls in der Rede von R. von Weizäcker 1985 erwähnt wurden, 2008 rehabilitiert, indem in Berlin ein Denkmal für Hereros und Namas zur Anerkennung ihres Völkermords eingeweiht wurde.

Der deutsche Erinnerungsraum öffnet sich immer wieder neuen, zeitgemäßeren Blickwinkeln und Problematiken.

Ein sichtbarer Erinnerungsraum

Über die bloße Anerkennung der Verbrechen hinaus ist ihre Einbeziehung in den öffentlichen Raum von Bedeutung. Nur wenige europäische Länder weisen in diesem Bereich die Merkmale der Bundesrepublik auf: starke Synergien zwischen akademischem und gesellschaftlichem Umfeld und eine nicht minder große Medienwirksamkeit. Die Wiederherstellung des Gedenkens spielt in der deutschen Architektur eine entscheidende Rolle: Das Jüdische Museum in Berlin, dessen Architektur von Daniel Liebeskind zur Zeit seiner ursprünglichen Planung für Schlagzeilen sorgte; Kontroversen um das Humboldt Forum, in das ein Teil der ethnografischen Sammlungen des ehemaligen Ethnologischen Museums verlegt werden soll; Gedenkstätten wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin, aber auch ganz alltägliche Spuren in der Stadtlandschaft wie seit 1990 die Stolpersteine in allen deutschen Städten, die den Ort markieren, an dem jüdische Familien gelebt haben.

 

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Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin. © Franck Viltart

 

Das Kino kommt immer wieder auf fast zwanghafte Weise auf den Zweiten Weltkrieg zurück und produziert Filme, die viele Debatten auslösen, wie Michael Verhoevens Die weiße Rose (1984) über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) über das Ende Hitlers; und nicht zuletzt ist auch die deutschsprachige Literatur nicht untätig geblieben: Während Zeitzeugen der Kriegsgeneration ihre Erinnerungen in Abständen von 50 Jahren oder mehr niederschreiben (Günter Grass, Victor Klemperer, Martin Walser), begaben sich die nach 1940 Geborenen auf die Suche nach den Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte (Julia Franck, Christoph Hein, Uwe Timm). Sie haben nicht versucht zu verstehen, wie die Dinge wirklich passiert sind, sondern aus der Erinnerung - der eigenen und der anderer - zu lernen.

Im Zuge der Interessensgebiete, die durch neue Themen in der Öffentlichkeit entstehen, wird die Erinnerungskultur an Konflikte um neue Aspekte bereichert und überwindet die immer wiederkehrende Fokussierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit.

 

Jean-Louis Georget - Deutsche Zivilisation, Universitätsprofessor an der Sorbonne Nouvelle - Paris 3