Nationaler Gedenktag für die Opfer von Rassismus und Antisemitismus des französischen Staats und zu Ehren der so genannten Gerechten Frankreichs
Der nationale Gedenktag für die Opfer von Rassismus und Antisemitismus des französischen Staats und zu Ehren der so genannten Gerechten Frankreichs wurde auf Wunsch der jüdischen Gemeinschaft sowie zahlreicher französischer Persönlichkeiten eingeführt. Hintergrund dieser Forderung war es, auf die Verantwortung der Regierung Vichy aufmerksam zu machen, die sie im Rahmen der Verfolgung von Verbrechen an Juden während dem Zweiten Weltkrieg (1939 - 45) zu tragen hat.
Von 1993 bis 2000 werden zwei Texte verfasst, die die Modalitäten dieser nationalen Feierlichkeiten festlegen.
1993 bis 2000: Die französische Republik verfasst zwei Texte, um das Vorgehen gegen rassistische und antisemitische Verfolgung durch die “Regierung Frankreichs” anzuerkennen (1940-1944) und die Gerechten Frankreichs zu ehren.
1993: Der Sonntag des 16 Juli bzw. der darauf folgende Sonntag wird zum nationalen Gedenktag ernannt.
Der Erlass Nr. 93-150 vom 3. Februar 1993 wird vom Präsidenten der Republik, François Mitterrand, unterzeichnet. Er legt einen “nationalen Gedenktag zu Ehren der aus rassistischen und antisemitischen Gründen Verfolgten durch die so genannte “Regierung Frankreichs” (1940-1944) fest”. Als Gedenktag wird der 16. Juli, Jahrestag der Massenverhaftung am Vélodrome d'Hiver (16. Juli 1942), gewählt, sofern dieser Tag auf einen Sonntag fällt. Andernfalls wird der Gedenktag am darauf folgenden Sonntag gefeiert. Das Gedenken an diese tragische Episode während der Besatzung wurde zuvor durch Zeremonien geehrt, die von der jüdischen Gemeinschaft organisiert wurden.
Der Erlass sieht weiterhin die Errichtung von Gedenkstätten und Säulen in Paris, in Arbeitslagern, in Izieu und allen Hauptstädten der Departements vor. Die Kosten für diese Denkmäler übernimmt die französische Regierung. Eine Gedenkstätte wird in der Nähe des Vélodrome d'Hiver errichtet. Die Gedenksäulen werden insbesondere in den ehemaligen Lagern von Gurs (Pyrénées-Atlantiques) und Maison d'Izieu (Ain) aufgestellt. Am 17. Juli 1994 wird in der Nähe des ehemaligen Vélodrome d'Hiver und der Brücke Bir Hakeim die Gedenkstätte eingeweiht, vor der auch die offizielle Zeremonie abgehalten wird. In der Provinz hingegen wird sie vom Präfekten organisiert und an den Gedenksäulen gefeiert, die in den Hauptstädten der Departements aufgestellt wurden. Am 16. Juli 1995 verkündet Jacques Chirac, Präsident der Republik, während einer Rede anlässlich der Feierlichkeiten, dass “die kriminellen Machenschaften der Besatzungsmacht von den Franzosen, d. h. vom französischen Staat unterstützt wurden” und dass “Frankreich in diesen Zeiten unreparierbaren Schaden angerichtet hat.” Er erinnert weiterhin daran, dass die Massenverhaftung am Vélodrome d'Hiver “Auslöser war für eine Massenbewegung des Widerstands zahlreicher französischer Familien, den so genannten Gerechten Frankreichs, die zahlreichen Juden das Leben gerettet haben”.
Errichtete Gedenkstätte in der Nähe des Vélodrome d'Hiver in Paris. Quelle: MINDEFSGA/DMPA - Jacques Robert
2000: Per Gesetz werden die so genannten Gerechten Frankreichs geehrt
Das Gesetz Nr. 2000-644 vom 10. Juli 2000 entspricht einer Überarbeitung des Erlasses von 1993, wobei insbesondere die Würdigung der Gerechten Frankreichs aufgenommen wurde. Dieser gesetzliche Feiertag gibt der Nation die Möglichkeit, sich all derjenigen zu erinnern, “die unter Einsatz ihres eigenen Lebens und ohne jegliche Gegenleistung besonnen agiert haben, indem sie bedrohte Menschen vor dem Völkermord geschützt oder verteidigt haben”.
Zeremonie vom 16. Juli 2000. Quelle: MINDEF/SGA/DMPA
Die Massenverhaftung am Vel d'Hiv. (Juli 1942): Symbol der rassistischen und antisemitischen Politik der Vichy-Regierung
Der nationale Gedenktag verbindet die Anerkennung der Verantwortung des französischen Staates für die kriminellen Handlungen während der Besatzung. Der Gedenktag wird am 16. Juli gefeiert, Jahrestag der Massenverhaftung am Vélodrome d'Hiver.
1942 : Die Massenverhaftung am Vel d'Hiv.
Am 16. und 17. Juli 1942 werden nahezu 13.000 Menschen - Männer, Frauen und Kinder - verhaftet. Dies geschieht durch die französische Gendarmerie und die Polizei und auf Befehl von Jean Leguay, Assistent und Vertreter der Besatzungszone von René Bousquet, Generalsekretär des Innenministeriums, zuständig für die Polizei von Vichy. Die Operation erfolgt anhand von detaillierten Listen, die vorab von der Polizeipräfektur erstellt worden waren. Ungefähr 7.500 Menschen, darunter 4.000 Kinder, werden im Vélodrome d'Hiver unter schlimmsten und unmenschlichen Konditionen zusammengepfercht. Es wurden keinerlei Vorkehrungen bezüglich der Unterbringung getroffen, bevor die Gefangenen dann in die Konzentrationslager von Loiret gebracht wurden. Die anderen Menschen wurden direkt nach Drancy gebracht und von dort aus im Sommer in den Osten deportiert. Diese Massenverhaftung war nicht die erste ihrer Art. Aufgrund der Reichweite und der Beteiligung seitens des französischen Staates ist sie jedoch die Wichtigste. Sie zeigt die politischen Machenschaften der damaligen Regierung.
16. Juli 1942: Vor dem Vel' d'Hiv'; Der Bus steht bereit, um die verhafteten Juden von den Versammlungsorten ins Sammellager Vélodrome d'Hiver zu bringen- C BHVP / Fonds France Soir (Historische Bibliothek der Stadt Paris)
1940 bis 1944: Die rassistische und antisemitische Politik der Vichy-Regierung
Am 10. Juli 1940 stimmen die parlamentarischen Abgeordneten in Vichy mit 569 zu 80 Stimmen für die umfassende Machtübergabe an Marschall Pétain. Dieser erlässt am Folgetag die ersten drei Verfassungsartikel, auf die der Staat Frankreich gegründet ist. Die Regierung verfolgt umgehend eine rassistische, ausländerfeindliche und antisemitische Politik und erlässt Gesetze, die einen Großteil der französischen Bevölkerung aufgrund ihrer “Rasse” ausschließt. Ziel dieser Politik ist es, den Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Intellekt der “Unerwünschten”, insbesondere der Juden, einzuschränken und ihre Güter zu vereinnahmen. Diese Politik ist eine direkte Konsequenz auf die von Pétain gewünschte “Nationale Revolution”, die vorsieht, dass die Verantwortung für die Niederlage der Vergangenheit auf die Unfähigkeit der vorhergehenden Regierungen und das parlamentarische System zurückzuführen ist.
Die ersten Ausschlussmaßnahmen durch die Vichy-Regierung erfolgen im Juli 1940. Das am 17. Juli erlassene Gesetzt verbietet sämtlichen Ausländern das Ausführen öffentlicher Ämter, wobei manche Ausnahmen zugelassen wurden. Am 22. Juli folgt ein Gesetz, das das 1927 erlassene Einbürgerungsgesetz revidiert und durch die neue Nationalitätenordnung ersetzt. Basierend auf dieser Revision wird 15.154 Menschen die französische Staatsbürgerschaft aberkannt. Menschen, die für die Regierung ein nationales Sicherheitsrisiko darstellen, werden spezielle Wohnsitze zugewiesen oder sie werden in Konzentrationslager verschleppt. Zigeuner, in deren Nomadenleben Grenzen noch nie ein Hindernis dargestellt haben, werden in über 30 verschiedenen Lagern in einer Art Freizone untergebracht, die eher einer Besatzungszone gleichen.
Kurz darauf wurden auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinde direkte Opfer dieser Diskrimierungen. Weitere zwei Gesetze folgten am 3. Oktober 1940 und am 2. Juni 1941, die den Status der Juden definierten. In der Annahme der deutschen Forderungen handelte die Vichy-Regierung vollkommen eigenverantwortlich. Alle Juden mussten sich zwangsweise registrieren lassen und durften bestimmte Funktionen, Posten oder Berufe nicht mehr ausführen. Sie wurden von sämtlichen öffentlichen Funktionen ausgeschlossen, d. h. sie durften nicht mehr als Richter, beim Militär, der Presse, in der Industrie oder in freien Berufen arbeiten. Dieser Erlass wird ergänzt durch das Gesetz vom 4. Oktober 1940, das die Inhaftierung oder Einweisung in spezielle Wohnstätten für ausländische Juden autorisiert. Am 29. März 1941 wird ein Generalkommissar mit der Judenfrage beauftragt, eine Stelle, die auf Aufforderung der deutschen Behörden vom französischen Staat geschaffen wurde. Aufgabe des Generalkommissars war es, die Anwendung des Judenstatus und die Anti-Juden-Gesetze zu überwachen und die anti-jüdische Propaganda voranzutreiben. Seine Autorität wird auf diese zwei Bereiche erweitert.
Der französische Staat errichtet für die jüdische Bevölkerung Konzentrationslager im Süden, wie z. B. Gurs, in dem Tausende Ausländer - hauptsächliche Deutsche (53,6 %), aber auch Polen (12,8 %), Spanier (10,9 %), Österreicher (9,8 %), Russen, Belgier, Niederländer und Rumänen - während der Kriegsjahre zusammengeführt wurden. Andere Lager befanden sich in Vernet, Ariège, Milles und Bouches-du-Rhône.
Lager in Vernet. Quelle: DR
Anfang 1941 beteiligt sich die französische Polizei erstmals an den Massenverhaftungen und der Unterbringung in den nördlichen Bereichen. Die drei ersten Interventionen finden in Paris statt. Am 14. Mai 1941 werden 3.710 ausländische Juden oder Staatenlose in den Lagern von Pithiviers und Beaune-la-Rolande interniert. Am 20. August werden weitere 3.477 Juden oder Staatenlose verhaftet und in das Lager in Drancy verschleppt. Ende des Jahres, am 12. Dezember, werden 1.000 Menschen, darunter 700 französische Juden im Lager Compiègne interniert.
Lager in Pithiviers, Loiret. Quelle: DR
Mit der von den Nazis verkündeten Endlösung nahmen die Verfolgungen und Massenverhaftungen sprunghaft zu. Sie betrafen nunmehr die gesamte jüdische Gemeinde, Franzosen und Ausländer, Männer, Frauen und Kinder.
Am 27. März 1942 werden die ersten Juden von Frankreich nach Auschwitz deportiert. Der französische Staat hat sich durch die Organisation der Registrierungen, Verhaftungen und Internierung sowie durch die Auslieferung an die Nazis eindeutig mitschuldig gemacht an ihrer Vernichtung.
Ankunft eines Transports im Lager Drancy, Region Paris. Quelle: DR
Von den 300.000 in Frankreich lebenden Juden wurden 75.000 während des Zweiten Weltkrieges deportiert. Selbst in den letzten Monaten der Besatzung haben die Deportationen kaum abgenommen. Am 6. April 1944 wurden 44 jüdische Kinder mitsamt ihrer Helfer in Izieu festgehalten. Die letzte große Massenverhaftung findet zwischen dem 21. und 25. Juli 1944 statt. Hiervon waren auch 250 Kinder betroffen, die in den Häusern der Generalunion der Israeliten in Frankreich (UGIF) untergebracht waren. Die letzten Deportierten verlassen das Lager in Drancy am 17. August 1944, eine Woche vor der Befreiung von Paris.
La maison d'Izieu, Ain. Quelle: MINDEF/SGA/DMPA
Der Widerstand der so genannten Gerechten
Das Vorgehen gegen die Vorgaben von Vichy und die deutschen Vorgaben und das Verstecken von gesuchten Personen ist mit hohen Risiken verbunden. Dennoch haben viele Franzosen im gesamten Land, aus allen sozialen Schichten und Konfessionen, einzeln oder gemeinsam während der ganzen Kriegsjahre vielen Männern, Frauen und Kindern geholfen, sich vor der französischen Polizei und den Deutschen zu verstecken. Zu diesen Widerstandsgruppierungen zählte z. B. auch das Netzwerk “Marcel”, das 527 Kinder oder protestantische Einwohner des Dorfes Chambon-sur-Lignon gerettet hat, die ebenfalls zahlreiche Kinder versteckt hatten. Durch ihre Handlungen haben sie bewiesen, dass die republikanischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur leere Worte waren. Viele von ihnen haben insbesondere Kinder versteckt und beschützt, indem sie den Familien materielle Hilfe oder moralische Unterstützung boten, indem sie ihnen falsche Papiere besorgten, sie über bevorstehende Massenverhaftungen informierten oder sich weigerten, ihre Namen an die Behörden weiterzuleiten. Es ist unmöglich, die Anzahl der Gerechten Frankreichs zu beziffern, die allesamt während der Besatzungszeit und unter großem menschlichen Leid Tausende Menschen versteckt und gerettet haben. Die Nation hat sich deshalb entschieden, die Handlungen der Gerechten anzuerkennen, indem ihnen dieser Gedenktag gewidmet wurde.
Sammlung “Mémoire et citoyenneté”, Nr. 18, MINDEF/SGA/DMPA