Auf den Spuren der Deportation
Im Februar haben sich fünfzig Schüler der obersten Schulstufe des Gymnasiums für Kommunikation in Metz auf eine Reise nach Nürnberg, Prag, Krakau und Auschwitz begeben. Fünf von ihnen erzählen hier von ihrer Reise auf den Gedenkwegen der Deportation.
Wir haben alle Filme gesehen, Bücher gelesen und haben uns das Grauen vorgestellt, den die Deportierten im Zweiten Weltkrieg erleben mussten; diese Orte aber mit unseren eigenen Augen als Jugendliche zu sehen, ist ein anderes Gefühl, viel stärker und tiefgreifender. Die meisten von uns wollten an der Reise teilnehmen, um das Lager Auschwitz besuchen zu können. Um zu sehen, zu erfahren, zu verstehen und die Opfer zu würdigen.
Die Reise als Gruppe war auch eine unserer Motivationen. Auf die Frage: „Könntet ihr das Lager Auschwitz in den Ferien mit der Familie besuchen?“ haben alle Schüler mit „Nein“ geantwortet. Warum? Auschwitz ist kein Touristenziel. Dieses Lager ist vor allem eine Gedächtnisstätte und ein Ort der Einkehr. Wir brauchten die Lehrer an unserer Seite, damit sie uns die notwendigen Erklärungen gaben. Die Reise als Gruppe bot schließlich auch die Möglichkeit, einander unsere verschiedenen Eindrücke mitzuteilen.
DIE RESTE DES JÜDISCHEN LEBENS IN MITTELEUROPA
Nach einem ersten Besuch des Komplexes, der für die Nazi-Kongresse in Nürnberg bestimmt war, fuhren wir nach Prag in die tschechische Republik, um das jüdische Viertel und dessen zahlreiche Synagogen zu entdecken, die ganz unterschiedlich sind. Eine hat uns mehr angesprochen als die anderen. Die Wände in der Synagoge Pinkas waren mit 77.297 Namen jüdischer Tschechen bedeckt, die im Laufe des Zweiten Weltkriegs ermordet worden waren. Im oberen Stock wurden Zeichnungen von Kindern gezeigt, die in den Jahren 1942-1944 nach Teresin deportiert worden waren. Es war erschütternd, in einer Zeichnung, die das Grauen des Krieges zeigt, die Unschuld eines Kindes zu sehen.
Am nächsten Tag besuchten wir das jüdische Ghetto von Krakau. Die jüdische Gemeinde lebte hier seit Ende des 15. Jahrhunderts. Als die Deutschen Polen besetzten, beschlossen sie im März 1941, die Bewohner in ein anderes Ghetto umzusiedeln, das von Mauern umgeben war und in dem die Lebensbedingungen schwierig waren. Dort wurde zwischen zwei Arten von Personen unterschieden, den Arbeitsunfähigen, die als erste hingerichtet wurden, und den Arbeitsfähigen, die einen Passierschein erhielten.
Als wir in das ehemalige Ghetto kamen, dieses „Gefängnis“ mit natürlichen Grenzen aus Wasserläufen und Felsen, waren wir von den Umfassungsmauern beeindruckt, die von den Nazi in Form von Grabsteinen errichtet worden waren. Damit sollte den Bewohnern signalisiert werden, dass sie dort nicht lebend herauskamen. Wir erfuhren, dass sich manche durch ihren Mut und ihre Menschlichkeit nach dem Vorbild des Apothekers Pankiewicz auszeichneten. Er war kein Jude, aber blieb im Ghetto, um Leben zu retten. Er hatte insbesondere mehrere Kinder in seinem Arbeitszimmer versteckt.
Heute befindet sich auf dem „Platz der Ghettohelden“ ein Denkmal zu Ehren der Opfer, das sich aus 68 leeren Stühlen zusammensetzt, welche für die 68.000 Juden stehen, die aus dem Ghetto verschwunden sind.
„EIN GESCHICHTSTRÄCHTIGER BODEN“
Der letzte Tag unserer Schulfahrt durch Mitteleuropa sollte uns nach Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau) bringen. Seit der Grundschule wird uns von diesem Ort erzählt, was ihn in den Augen unserer Generation möglicherweise zum Mythos macht. Wir verlassen Krakau früh am Morgen, um an diese Stätten zu fahren. Eine Stunde im Bus gibt uns Zeit, diesen Moment zu erfassen. Manche fürchten sich vor ihrer Reaktion, andere können es kaum erwarten, ihre Neugierde zu stillen. Die Lektüre der letzten Seiten des Berichts von Primo Levi bereitet manche von uns auf das 65 Kilometer entfernte Ziel vor.
Gleich bei unserer Ankunft am Parkplatz des Ortes verstehen wir beim Verlassen des Busses, dass wir einen geschichtsträchtigen Boden betreten. Die Stimmung ist genauso frostig wie die Temperatur. Wir gehen hinein und bekommen Kopfhörer, um die Kommentare des Reiseführers zu hören. Seine sanfte Stimme schien das Grauen zu mildern, von dem uns erzählt wurde. Wir gehen unter der Aufschrift „Arbeit macht frei“ hindurch und betreten das Lager.
Unsere Begleiterin zeigt uns den Ort, Block für Block. In einem davon ist das Zitat Winston Churchills zu lesen: „Wer seine Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie wieder zu erleben“, was an solchen Orten seine volle Bedeutung erhält. Als wir von Gebäude zu Gebäude gehen und die Töpfe, Koffer, Kleidung, Porträts, Brillen, Kämme und Haare sehen, bekommen wir das Ausmaß des Genozids vor Augen geführt. In einem der Räume ist ein Stapel aus Schachteln mit Zyklon B ausgestellt, der auf Zyanid basierenden Chemikalie, die der Vernichtung in den Gaskammern diente. Etwas weiter sind in einem riesigen Buch alle Toten der Shoah verzeichnet, vierzig Millionen Identifzierte von insgesamt zirka sechs Millionen Opfern. Manche von uns lassen sich gehen und blättern durch die Seiten dieses Monsters aus Papier auf der Suche eines Verwandten oder eines bekannten Namens.
DIE UNERMESSLICHKEIT VON BIRKENAU
Auschwitz I erschien uns riesig. Das war, bevor wir das zweite Lager (Auschwitz II oder Birkenau) entdeckten, das etwa 30 Mal so groß wie das erste war. Im Gegensatz zu Auschwitz I wurde Birkenau zur Gänze während des Krieges errichtet, hauptsächlich von den Deportierten selbst. Der traurigerweise berühmte Turm am Lagereingang wurde erst 1944 gebaut. Bei Eintreten ist man zuerst von den Ausmaßen des Geländes überrascht. Man sieht nicht bis zum Ende. Die Ziegelbaracken links wurden den Frauen zugewiesen und jene aus Holz auf der rechten Seite den Männern. Durch die rekonstruierten Betten und Latrinen kann man sich die verabscheuungswürdigen Lebensbedingungen der Deportierten vorstellen. Während dieser Besichtigung sind wir viel gegangen. Aber verständlicherweise ist es nicht angebracht zu jammern, denn vor 70 Jahren wurde dieser Boden nicht von Studenten betreten, die wie wir nach Wissen strebten, sondern von hungrigen, müden, entmenschlichten Deportierten. Inmitten des Lagers kehrt sich die Perspektive um. Wir sehen den Wachturm nicht mehr. In der Nähe des Waldes können wir die verfallenen Gaskammern und Krematorien betrachten. Das ehemalige Desinfektionsgebäude etwas weiter entfernt steht noch. Hier sind etwa hundert persönliche Fotos jüdischer Opfer ausgestellt. An einem von ihnen wurde eine weiße, frische Blume angebracht, bestimmt von Nachkommen.
Am Ende des Besuches bleiben wir vor einem Denkmal für die Toten stehen, unter dem Asche zusammengetragen wurde. Spontan halten wir eine Schweigeminute ab. Zu diesem Zeitpunkt sind die Emotionen so stark, dass wir die Kälte vergessen. Wir gehen weiter: die unvollendete Erweiterung des Lagers zu unserer Linken ist ein Beweis für die düsteren Absichten der Nazi-Ideologie. Am Ende dieses Tages herrscht drückende Stille und tausende Gedanken schwirren in unseren Köpfen umher.
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