Denis Peschanski 2018
Der Forschungsdirektor des CNRS und Experte für Geschichte und Gedenken des Zweiten Weltkriegs, Denis Peschanski, sprach auf einer Konferenz am Gymnasium Metz insbesondere über die Mechanismen der Bildung eines kollektiven Gedenkens.
Können Sie uns kurz die Mechanismen der Bildung des Gedenkens erklären?
Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg: die Flucht im Mai-Juni 1940 und die Bombardierungen der Normandie durch die Alliierten 1944. Keines dieser Ereignisse, obwohl sie wichtig waren, wurde in das kollektive Gedenken aufgenommen, denn sie machten in der Gesellschaft keinen Sinn. Was sollte man im Fall der Flucht von 1940 mit der Angst anfangen, die fast acht Millionen Franzosen auf die Straße trieb, als sie vor dem blitzschnellen Vormarsch der Deutschen flohen? Das ganze Land war Zeuge, aber das Ereignis wird mit negativen Elementen wie der Schande, der Flucht und Plünderungen verbunden. Welchen Sinn sollte man im Fall der Bombardierungen durch die Alliierten den Bomben geben, die von jenen abgeworfen wurden, die euch befreiten, wenn auch zum Preis von massiven Zerstörungen, in Asche gelegten Städten und tausenden Opfern? Das Gedenken ist selektiv und bewahrt nur Fakten, die am Aufbau der Identität beteiligt sind und daher einen gesellschaftlichen Nutzen haben. Die Voraussetzungen für eine Geschichte der Erinnerung sind daher nicht erfüllt.
Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, haben meine Kollegen vom CNRS und ich eine Studie über die Attentate vom 13. November 2015 durchgeführt, die zunehmend zu den Attentaten „des Bataclan“ werden: die Terrassen des X. Arrondissement und das Stade de France scheinen bereits aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden. Wir stellen daher fest, dass es eine sehr selektive Darstellung der Vergangenheit gibt.
Welche Voraussetzungen müssen also gegeben sein, damit ein Gedenken kollektiv wird?
Wir erleben heute große Diskussionen um Worte wie individuelles, gemeinsames, kulturelles, kollektives Gedächtnis usw. Das sind äußerst sensible Themen. Das kollektive Gedenken ist ein gemeinsames Gedenken mehrerer Personen, die zur selben Gruppe gehören. Im Gegensatz zur Geschichte, die auf der tatsächlichen Bedeutung eines Ereignisses zum Zeitpunkt seines Geschehens beruht, stützt es sich auf das Gefühl des Nutzens des Ereignisses für den Identitätsaufbau dieser Gruppe.
Damit ein Ereignis im kollektiven Gedenken berücksichtigt wird, muss es einen Sinn haben: positive wie negative Aspekte der Vergangenheit - wie die Kollaboration und das Regime von Vichy, welche die negative Figur bilden, die jener des Widerstandskämpfers gegenübersteht - müssen daher einen gesellschaftlichen Nutzen haben. Daher ist es nicht die Aufgabe des Gedenkens, zu verhindern, dass sich dieselben Ereignisse wiederholen, was leider zum Scheitern verurteilt ist, sondern ein Gefühl der Identität, der sozialen Bindung zu schaffen, damit eine Bevölkerung kollektiv bestehen kann.
Aber das Gedenken ist nicht festgefahren, es entwickelt sich und wirkt in der Geschichte: nehmen wir das Beispiel von Jean Moulin, der in dieses kollektive Gedenken erst seit Dezember 1964 als Held des Widerstands aufgenommen ist, als er in die Ruhmeshalle des Panthéon verlegt wurde und die berühmte Rede von Malraux stattfand. Es ist die Symbolik hinter der Persönlichkeit, die diese als Helden in unserem kollektiven Gedenken bestätigt.
Wie soll man bestimmte Gedenkstätten als Orte der Vernichtung begreifen? Welche Vorgehensweise ist zu bevorzugen?
Orte mit einem großen Bedeutung für das Gedenken werden von den Touristen überrannt. Jedoch sind diese Orte, an denen die Geschichte so tragisch war, schwer zu erfassen. Zum Beispiel verzeichnet Auschwitz immer mehr Besucher; Gedenktouristen aus der ganzen Welt kommen zu Tausenden, um sich an diesem symbolischen Ort des Dramas der Shoah zu versammeln. Es gibt daher einen gewissen Bedarf an Respekt und Einkehr, der die Bedeutung dieses kollektiven Gedenkens ausdrückt. Jedoch ist es wichtig, für den jeweiligen Ort und das jeweilige Ereignis ein Gleichgewicht zwischen der Geste und dem Ziel des Gedenkens zu finden. Das Gedenken findet vor allem in uns selbst statt, durch unsere Gefühle, in unserem Innersten und durch unser Nachdenken über die vergangenen Ereignisse.
Der Besuch eines Ortes wie Auschwitz ist eine Herausforderung: er verlangt unumgängliche Anstrengungen von jedem, um sich mit dem Unaussprechlichen auseinanderzusetzen und erfordert auch viel Zeit, das Gesehene zu begreifen. Das war im Vorgehen Ihrer Lehrer maßgebend und ich gratuliere diesen dazu.
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