Junge Reporter des Gedenkens
Zusammenfassung
Zusammenfassung
DATUM: Juli 1942
ORT: Frankreich
HERAUSGEGEBEN: Verhaftung von Henri Borlant, 15 Jahre, und Deportation nach Auschwitz-Birkenau
Henri Borlant ist das einzige jüdische Kind unter 16 Jahren, das Auschwitz nach seiner Festnahme 1942 überlebt. Nach der Deportation im Juli überlebt er drei Jahre im Todeslager. Nach seiner Rückkehr wird er Arzt. Als ihm die Redaktion vorschlägt, Schüler des Gymnasiums für Kommunikation in Metz zu treffen, antwortet er: „Das ist meine Aufgabe“.
Ich erzähle Ihnen nun meine Geschichte. Ich wurde am 5. Juni 1927 in Paris geboren. Ich bin das vierte von 9 Geschwistern. Meine Eltern waren russische Juden, die vor dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1912 nach Frankreich gekommen waren, weil sie von der Demokratie träumten. Zu Ende des Schuljahres 1939 kommen Kriegsgerüchte auf. Die Behörden im 13. Arrondissement von Paris befürchten Bombardierungen. Wie in anderen Stadtteilen mit vielen Kindern wird deren Abreise organisiert. Man setzt meine Mutter, meine Geschwister und mich also in einen Zug, der uns in ein kleines Dorf südlich von Angers bringt. In der Nacht bringt meine Mutter meine jüngste Schwester zur Welt. Am nächsten Tag, dem 1. September, wird die Generalmobilmachung durch Aushang bekanntgegeben. Ich werde in der Schule eingeschrieben und erhalte vom unterrichtenden Priester eine katholische Erziehung. Bald schon werde ich getauft, mache meine Erstkommunion, dann die Firmung und werde sehr gläubig. Mit 14 Jahren komme ich aus der Schule und finde eine Stelle in der Werkstatt nebenan. Wir waren glücklich, weil wir zusammen waren und die schönen Seiten am Land entdeckten, während es in Paris viele Einschränkungen gab.
Mitten in dieser Ruhe holen uns am 15. Juli 1942 deutsche Soldaten ab. Sie haben unsere Namen und unsere Adresse. Mein Vater war nicht auf der Liste. Ich war 15 Jahre alt, war auf der Liste, genauso wie mein Bruder Bernard und meine Schwester Denise. Ich dachte, Deutschland würde Arbeitskräfte brauchen und ich solle dort arbeiten. Aber meine Mutter stand auch darauf. Ich war auf so etwas nicht vorbereitet. Sie konnte nicht arbeiten. Ich verstand das nicht. Wir sind auf das Lastauto gestiegen und es fuhr los. Unterwegs nehmen sie weitere Familien fest. Nach der Ankunft im Seminar von Angers werde ich von meiner Mutter und meiner Schwester getrennt. Am nächsten Tag kommt mein Vater zu mir und meine Mutter wird in das Dorf zurückgeschickt. Wir sind fünf Tage im Seminar geblieben.
Eines Morgens werden wir in Tierwaggons geladen, die weder Fenster noch Sitze haben und in denen wir uns nicht ausstrecken können. Ich werde meine Schwester, die von uns getrennt wurde, nicht mehr wiedersehen. Der Zug bleibt vor seiner Abfahrt stundenlang stehen. Die Leute beginnen kurze Nachrichten zu schreiben, die sie durch die kleine Luke werfen. Auch ich mache das: „Mama, scheinbar fahren wir in die Ukraine, um bei der Ernte zu helfen.“ Später erfahre ich, dass meine Mutter die Nachricht von einem Eisenbahner erhalten hat.
Die Fahrt dauert 3 Tage und 3 Nächte, ohne Essen und Trinken. Der Zug bleibt schließlich mitten auf einem Feld stehen. Man hört Schreie, Männer, Hunde. Beim Aussteigen werden wir aufgefordert, unser Gepäck zurückzulassen und wir müssen laufen. Man lässt uns in 5er-Reihen aufstellen und wir gehen ca. 2 Kilometer, bis wir zum Lager Birkenau kommen, das mit Stacheldraht umgeben ist, der unter Strom steht, wie wir sehr schnell erfahren. Wir werden zu einer großen Baracke geführt, bevor man uns Befehle erteilt: zuerst „Zieht euch ganz aus“. Vor aller Augen? Ja. Ich war sehr schamhaft. Es setzt erste Stockschläge. Ein weiterer Trupp kommt, der uns schert und rasiert. Ich sehe meinen nackten Vater mit kahl geschorenem Kopf. Dann bekommen wir eine Tätowierung. Diese Nummer ist unser Name, unsere Identität. Ich werde zur 51.055. Im Lager gibt es Franzosen, zumeist Widerstandskämpfer und Kommunisten, die neben ihrer Nummer ein rotes Dreieck tragen. Ein Buchstabe zeigt die Nationalität an. Die Grausamsten tragen grüne Dreiecke, ehemalige Verbrecher. Sie sind oft Chefs von Kommandos.
Wir bekommen Kleidung, die bereits von kranken Menschen oder von solchen getragen worden war, die darin zweifelsohne gestorben sind. Die Schuhe sehen aus wie Holzsandalen. Mit ihnen zu laufen ist sehr schwierig. Bald schon haben wir alle Blasen an den Füßen. Wir werden angeschrien, geschlagen, können nicht trinken und verhungern fast. Jeden Tag kommen Züge mit neuen Deportierten. Sie sagen uns: „Ihr seid hier in einem Vernichtungslager. Außer über den Schornstein des Krematoriums kommt ihr von hier nicht weg.“ Es herrscht Panik. Ja, so hat das angefangen.
Henri Borlant écolier
© Collection Henri Borlant
WAS WAR DAS EINSCHNEIDENSTE EREIGNIS WÄHREND IHRER DEPORTATION?
Ich glaube, das war der Hunger. Wenn man fast verhungert, ist man kein wirklicher Mensch mehr. Der Kopf ist nicht frei, man nimmt ab, man strengt sich über die Maßen an. Ich kenne den Hunger, den jene erlebt haben, die man heute auf den Archivdokumenten sieht, wie Skelette, die nur noch die Haut auf den Knochen haben. Ich kenne diejenigen, die daran gestorben sind. Das Wort Hunger, das ihr verwendet, wenn ihr das Mittagessen weglasst, bedeutet nicht das gleiche. Wir haben etwas erlebt, was man nicht mit Worten beschreiben kann. Wenn man solchen Hunger hatte wie ich, gibt es keinen Traum mehr, gar nichts mehr. Der Hunger lässt einen nicht los.
KONNTEN SIE MIT IHRER FAMILIE ZUSAMMENBLEIBEN?
Nach der ersten Woche in derselben Baracke mit meinem Vater wurden wir getrennt. Ich sah ihn manchmal am Abend. Nach einem Monat sagte er zu mir: „Ich bin 54 Jahre alt, ich werde es nicht mehr lange schaffen. Du musst durchhalten, denn deine Mutter braucht dich.“ Nach sechs Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Zwei Monate später wurde ich nach Auschwitz I geschickt und von meinem Bruder getrennt, den ich nicht mehr wiedersah. Ich blieb ein Jahr in Block 7, der von einem Barackenaufseher mit grünem Dreieck geleitet wurde, einem völlig Wahnsinnigen. Nach einem Jahr werde ich nach Birkenau zurückgeschickt. Es war zu einem riesigen Lager geworden. Ich suche meinen Bruder, finde ihn aber nicht.
Lettre rédigée par le cheminot pour accompagner le mot adressé par Henri Borlant à sa mère et jeté à travers la lucarne du train avant de partir pour Auschwitz
© Collection Henri Borlant
WAR ES IN EINEM LAGER MÖGLICH FREUNDSCHAFTEN ZU SCHLIESSEN?
Das war nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig, um zu überleben. Es gab niemanden, der ohne gegenseitige Hilfe überleben konnte. Es gibt einen Moment, in dem man ganz allein nicht mehr kann. Es gibt einen Moment, in dem man 40 Grad Fieber hat und den man nicht überlebt, wenn man nicht von beiden Seiten gestützt wird, um beim Appell nicht zusammenzubrechen. Es gab auch moralische Unterstützung: Menschen, die mit mir sprachen, die mir Mut machten und mir sagten, dass sie da sind. An anderen Tagen sollte ich für sie da sein. Menschen derselben Sprache versuchten sich in Gruppen zusammenzutun. Als wir dann mehrere waren, sahen wir die Gefahr von allen Seiten kommen, wir warnten einander, was zum Überlebenskodex gehörte.
Alle, die ich im Lager kennengelernt habe, sah ich später regelmäßig wieder. Es waren die einzigen, mit denen ich über das Leben in den Lagern sprechen konnte. Den Arzt Désiré Hafner, der mir später riet Arzt zu werden, kannte ich bis zu seinem Tod. Ich habe seinen Bericht protokolliert und wir haben eine DVD für die Stiftung zur Erinnerung an die Deportation gemacht... Ich habe ein gutes Dutzend Kollegen angerufen, die ich interviewete, wunderbare Menschen, die all das durchgemacht hatten. Wissende Leute, denn sie haben dasselbe erlebt. Niemand konnte uns so gut verstehen wie diejenigen, die denselben Weg gegangen waren.
WIE ERKLÄREN SIE ES, DASS SIE DREI JAHRE NACH DER DEPORTATION NOCH AM LEBEN WAREN?
Ich kann es nicht erklären. Ich war 15 Jahre alt und sehr zerbrechlich. Ich hätte wirklich nicht auf mich gesetzt. Dennoch habe ich den Typhus, die Tuberkulose usw. überlebt. Und die Lust zu leben ist etwas, das es wirklich gibt. Manche sagten sicht: „Es lohnt sich nicht zu leiden um zu sterben“ und sie ergriffen den elektrischen Stacheldraht. Es gab so manchen Selbstmord. Aber die meisten sagten sich, man müsse selbst unter diesen Bedingungen versuchen zu überleben, einen weiteren Tag und noch einen und noch einen. Wenn ich Ihnen das erzähle, möchte ich einen Satz hinzufügen, der nicht von mir stammt sondern von La Fontaine, im Märchen „Der Tod und der Holzfäller“: „Lieber leiden als sterben. So lautet die Devise des Menschen.“ Man leidet, man ist unglücklich, aber man klammert sich ans Leben.
Le général Eisenhower et ses hommes découvrent des prisonniers exécutés par les nazis au camp d’Ohrdruf, le 5 avril 1945
© Keystone-France
WIE IST IHRE BEFREIUNG ABGELAUFEN?
Im Oktober 1944, als die Russen näher kamen, wurden mehrere von uns in die Lager bei Berlin evakuiert. Jeden Tag flogen die alliierten Flugzeuge über uns hinweg. Ich wurde schließlich nach Ohrdruf geschickt, ein kleines Nebenlager von Buchenwald. Ich werde ein Neuling, das heißt, dass man mich die schlimmsten Arbeiten machen lässt. Eines Tages werde ich in einen Fleischerladen in der Stadt geschickt, um Essen für die SS zu holen. Während wir den Lastwagen be- und entladen, nähert sich ein Kriegsgefangener und sagt zu mir (er war Franzose): „Halte durch, es dauert nicht mehr lange, die Amerikaner sind nicht mehr weit weg und wenn du dich retten kannst, werden dich meine gefangenen Kameraden und ich verstecken. Der Fleischer hier ist ein Nazigegner. Du kannst dich ihm anvertrauen.“ Eines Tages, in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1945, als wir wussten, dass die Amerikaner kommen, sind ein Kamerad und ich geflohen, da wir die Zwangsräumung, diese Todesmärsche, vermeiden wollten. Wir sind zu dem Fleischer, der uns Gefangenenkleidung gab. Am nächsten Tag kommen die Amerikaner. Ich bin frei. In ihrem Jeep fahren sie uns ins Lager Ohrdruf. Wir hatten das dringende Bedürfnis zu erzählen und zu zeigen, was geschehen war. Am 13. April bin ich im Repatriierungszentrum. Am 16. komme ich in Montigny-Lès-Metz an. Dort ist die Kontrolle der Papiere sehr streng. Ich habe keine. Ich gehöre in keine Kategorie: Gefangene, Unerwünschte, Arbeiter. Deportierte kennen sie nicht. Einer meiner Kameraden, dem man mitteilt, dass ihn seine Frau am Ostbahnhof erwartet, nimmt mich mit. Im Süden von Paris angekommen, essen wir das erste Mal in Frankreich. Das Telefon klingelt und man sagt mir „wir haben deine Mutter gefunden, sie wartet in ihrer Pariser Wohnung mit deinen Geschwistern auf dich.“ Ich hätte nicht geglaubt, sie wiederzusehen. Ich hatte mir immer gesagt, sie wäre zweifelsohne in einem der vielen Konvois nach Auschwitz gekommen. Ich fahre zu ihr. Sie hat mir keine Fragen gestellt und ich habe ihr nie etwas erzählt.
WAS WAR NACH IHRER RÜCKKEHR AM SCHWIERIGSTEN?
Es war nicht schwer, als ich zurückgekommen bin! Ich war in Paris, 17 Jahre alt, ich hatte die Zukunft vor mir und glaubte, nichts wäre mehr schwierig, nachdem ich das erlebt hatte. Vor allem habe ich meine Mutter wieder gefunden, ich konnte sie in meine Arme schließen und ihr sagen, wie sehr ich sie liebte. Dieses Glück hatten nicht alle. Zwei Jahre nach meiner Rückkehr inskribierte ich an der medizinischen Universität, da ich vor der Deportation keinen Abschluss gemacht hatte. Innerhalb von zwei Jahren bestand ich meine mittlere Reife und mein Abitur. Ich habe nie abgerüstet. Ich wurde Arzt, ein Beruf, den ich gerne ausübte. Ich hatte eine Praxis am Boulevard Richard Lenoir in Paris. Eines Tages behandelte ich eine deutsche Patientin, die mir ein Freund geschickt hatte. Sie hatte ihre Eltern verlassen, nachdem sie das Drama der Shoah entdeckt hatte. Sie kam einige Zeit später zurück und ich habe sie eingestellt. Wir verliebten uns, heirateten und bekamen drei wunderbare Töchter. Sie wartet zu Hause auf mich.
Es gab weitere zufriedene und glückliche Momente, wie jenen, als mir der Präsident der Republik einen Orden im Elysée anheftete und eine kurze Ansprache hielt. Zu diesen glücklichen Augenblicken zählt auch das, was ich mit euch mache, das heißt, gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, das ist wichtig. Vor allem bin ich mir bewusst, dass es nicht allen immer gegeben ist, glücklich zu sein, etwas zu essen zu haben, wenn man Hunger hat, mit der Frau zusammen zu sein, für die man sich entschieden hat, das ist Glück. Wenn man das überlebt hat, was ich überlebt habe, ist es dumm, sein Leben zu vergeuden.
Henri Borlant à son retour des camps, 1945
© Collection Henri Borlant
WENN MAN ETWAS ERZÄHLT, ERLEBT MAN ES AUF EINE GEWISSE WEISE WIEDER. IST ES FÜR SIE DAHER SCHWIERIG, IMMER WIEDER ZU ERZÄHLEN?
Nein, nein... Ich hatte beschlossen, nie mehr nach Auschwitz zurückzukehren. Ich wurde oft gebeten, Schüler und Studenten dorthin zu begleiten. 1995 wurde ich von einer Professorin für Geschichte kontaktiert, deren Studenten eine Arbeit und Ausstellung zum Thema „Die Befreiung der Lager und die Rückkehr der Deportierten“ machten. Ich gab ihnen daher die Kassetten mit den Berichten, um zu ihren Überlegungen beizutragen. Sie bitten mich, Serge Klarsfeld zu kontaktieren, damit er bei der Eröffnung der Ausstellung anwesend sei. Ich kannte ihn nicht persönlich. Aber ich rief ihn trotzdem an und sagte ihm, dass ich das Buch, das er über die Deportation der Kinder geschrieben hatte, gelesen und ein Foto meines Bruders gesehen habe. Er sagt zu mir: „Ah, wie heißen Sie?“, ich sage ihm meinen Namen und er sieht in seinen Listen nach. Er sagt: „Ich habe Sie nicht als Überlebenden vermerkt, sind Sie nicht über das Hotel Lutétia zurückgekehrt?“; „Nein, ich bin früher heimgekommen.“ Er hat mich zu den Überlebenden hinzugefügt und akzeptierte dann zu kommen... Damals bat er mich, Schüler der Abschlussklasse der Region Rhône-Alpes, die gleich alt waren wie ich zum Zeitpunkt meiner Deportation, mit ihm zusammen nach Auschwitz zu begleiten. Ich sagte zu, weil ich mich nicht traute nein zu sagen und als ich auflegte, sagte meine Frau zu mir: „Aber du bist krank, du weißt, dass du bei der Vorstellung, dorthin zu fahren, vor Angst zitterst.“ Als die Jugendlichen mit ihrem Lehrer zum Flughafen Lyon kamen, sagte er zu ihnen: „Das ist Henri Borlant... er war im Juli 1942, als er verhaftet wurde, 15 Jahre alt, so wie ihr jetzt. Es gab 6.000 Kinder unter 16 Jahren, die 1942 verhaftet wurden und von den 6.000 ist er der einzige Überlebende.“ Das versetzte mir einen schweren Schock. Seither sage ich mir, dass ich mich nicht weigern darf zu berichten, da ich weiß, dass ich der einzige Überlebende einer so großen Zahl von Kindern bin, die ermordet wurden.
SIE HABEN „MERCI D’AVOIR SURVÉCU“ (DANKE, DASS ICH ÜBERLEBT HABE) VERÖFFENTLICHT. WANN SIND SIE AUF DIE IDEE GEKOMMEN, IHRE ERLEBNISSE AUF PAPIER ZU BRINGEN?
Es gab einen Moment, als ich mir sagte: „Wenn du es nicht jetzt tust, wirst du es nie mehr tun.“ Dieser schriftliche Bericht fehlte mir. Ich bin kein Schriftsteller, daher habe ich meine Geschichte Leuten erzählt, die es hören wollten, aufnehmen usw. Ich versuchte es zwei Mal und war nicht zufrieden. Daher sagte ich mir: „Ich muss es selbst machen.“ Also begann ich zu schreiben. Als das Buch herauskam, fand es einen größeren Widerhall als alle meine Filmberichte. Ein Journalist fragte mich: „Warum haben Sie das nicht früher geschrieben?“, ich antwortete: „Weil ich kein Schriftsteller bin.“ Ich beantworte lieber eure Fragen, denn ich sehe euch und ich weiß, auf welche Wissbegierde ich antworte, das ist etwas ganz anderes, und ich mache das mit Freude. Ich erinnere mich, dass man mich vor langer Zeit einmal fragte: „Haben Sie sich schon einmal geschämt, Jude zu sein?“ Damals antworte ich: „Geschämt, Jude zu sein? Nein, nein, ich habe mich nie geschämt... Ich hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt Angst...“. Ich dachte tagelang darüber nach, das ging mir nicht mehr aus dem Kopf... Dann kamen mir Antworten, die für mich zufriedenstellend waren. Ich habe mich nicht geschämt, Jude zu sein, ich habe mich geschämt, Angst zu haben und habe diese Angst überwunden. Diese Angst behielt ich dennoch eine gewisse Zeit, dann ist sie eines Tages verschwunden.
Henri Borlant témoigne devant les lycéens de Metz, 29 mars 2018
© Vaea Héritier
MACHT ES IHNEN HEUTE NOCH ETWAS AUS, IMMER NOCH IHRE TÄTOWIERUNG AUF IHREM ARM ZU SEHEN?
Ja, es macht mir etwas aus. Es ist nicht einfach eine Tätowierung, eine Nummer. Es ist genau die 51.055. Diese Nummer, das heißt, es ist der 23. Juli 1942, als ich 15 Jahre, einen Monat und 10 Tage alt war, dass ich in dieses Vernichtungslager gebracht wurde, dass ich fast drei Jahre lang überlebt habe und mich gegen den Plan der Nationalsozialisten wehrte, uns in Asche und Rauch zu verwandeln. Das ist etwas, auf das ich stolz bin. Die Nationalsozialisten verbrannten uns, um uns verschwinden zu lassen, damit niemand etwas erfährt, und ich bin heute da und zeige euch diese Tätowierung. Es gibt Leute, die an Olympischen Spielen teilnehmen und eine Goldmedaille heimbringen. Diese Tätowierung ist meine Goldmedaille. Sie bedeutet, dass nur sehr wenige diesen Weg geschafft haben, dass ich ihn mit Krankheiten, Schlägen und Hunger ausgehalten habe. Ich bin da, leibhaftig, und prangere heute alle diese Sachen immer noch an. Ich wollte diese Tätowierung nie entfernen lassen. Anfangs habe ich sie versteckt, weil ich fürchtete, dass mir die Antisemiten Böses antun würden. Aber heute zeige ich sie euch, ich brauche sie nicht zu verstecken. Mit dieser Tätowierung kämpfe ich gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und ich kämpfe auch für die Verteidigung der Demokratie.
Es gibt etwas, auf dem ich bestehen muss. Ich gehöre zu denjenigen, die diese Zeit erlebt haben, die vier lange Jahre gedauert hat, als Frankreich von Marschall Pétain, Pierre Laval usw. geführt wurde. Sie haben mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet, sie haben unschuldige Menschen verhaftet. In diesen vier Jahren wurden mein Papa, mein Bruder, meine Schwester, meine Großeltern getötet, es wurden unzählige Kinder und Babys getötet, das ging jahrelang so und dann haben die Nazi verloren und ich konnte heim, ich konnte mein Land wieder mit einer demokratischen Führung vorfinden. Es gibt viele Länder auf der Welt, und Abermillionen von Menschen, denen eine solche Demokratie vorenthalten wird und die uns beneiden. Diese Demokratie haben wir geerbt, wir haben sie erhalten. Es gab Menschen, die haben ihr Blut dafür vergossen, sich von der Alleinherrschaft zu befreien. Wir haben das Wahlrecht und erfreuen uns daran, wir können gehen und kommen, wir können reden, für oder gegen etwas sein, das ist Glück. Wenn man dieses Recht wie ich verloren hat und es wiedererlangt, kennt man den Wert. Die Demokratie kann verloren gehen, wenn sich die Menschen nicht dafür interessieren, wenn sie nichts wissen wollen. Bei den Wahlen zeigt sich, dass es einen hohen Prozentsatz von Menschen gibt, die nicht wählen gehen. Ihr seid junge, gebildete Leute. Ihr müsst suchen, nachdenken, eure Wahl treffen und lernen, verantwortungsvolle Bürger zu sein.
Portraits de déportés dans le bâtiment couramment appelé "Sauna" à Auschwitz-Birkenau
© DR
WELCHE GEFÜHLE HABEN SIE NACH DEM KRIEG GEGENÜBER DEN DEUTSCHEN?
Ich bedanke mich für diese Frage, denn sie ist sehr wichtig. Es sind nicht die Deutschen, es sind die Nazi, die ich hasse, ob sie nun Franzosen oder Deutsche sind. In dem Lager, in dem ich war, gab es Deutsche, die Nazigegner waren. Ich kann nicht vergessen, dass sie im Kampf gegen die Nationalsozialisten ihr Leben riskierten. Ich habe euch die Geschichte, als ich ein junges, hübsches Mädchen kennenlernte, deshalb erzählt, weil sie Deutsche war und ich sie geheiratet habe. Ihr Vater war im Krieg Soldat und als seine Tochter ihn nach Erklärungen fragte, sagte er: „Das ist vorbei und wir sprechen nicht mehr darüber.“ Das war der Punkt, an dem sie beschloss, nach Frankreich zu gehen. Ich bin nicht dagegen, dass man über Menschen, die Verbrechen begangen haben, richtet und sie ihrer Straftat entsprechend verurteilt. Die Gesellschaft braucht Gerechtigkeit, sie braucht keine Vergebung. Es dürfen nur die Opfer vergeben und niemand anderer.
Autor
Pierre-Mickaël Carniel, Jeanne Zeihen et Léa Caïd
Mehr kennen
Bibliographie
Merci d’avoir survécu, Henri Borlant, éditions du Seuil, 2011.
Online-Artikel
1945, die Entdeckung des Grauens
Videos
Unterricht über die Deportation. Interakademische Tagung Paris-Créteil-Versailles. Auditorium der Shoah-Gedenkstätte, 19. November 2014
Besuch des Lagers Ohrdruf durch eine Delegation amerikanischer Generäle
Artikeln der Zeitschrift
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Das Ereignis
Auf den Spuren der Deportation
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Der Akteur
Das Fort de Queuleu
Im Zuge ihrer weiteren Gedenkreise nach Osteuropa besuchten die Gymnasiasten aus Metz das ehemalige Internierungs- und Durchgangslager Queuleu. Dabei konnten sie die europäische Geschichte mit jener ihrer Region und den Widerstandskämpfern, die dort gefangen waren, in Einklang bringen.
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Die Wartung
Denis Peschanski
Der Forschungsdirektor des CNRS und Experte für Geschichte und Gedenken des Zweiten Weltkriegs, Denis Peschanski, sprach auf einer Konferenz am Gymnasium Metz insbesondere über die Mechanismen der Bildung eines kollektiven Gedenkens.
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