Vermitteln und bilden
Die Jugend, die heute das „bevorzugte Publikum“ der Gedenkfeiern ist, wird von den Lehrern dabei unterstützt, die vergegenwärtigte Geschichte zu verstehen und Mittel zu finden, die Art und Handlung des Gedenkens zu erneuern. Die erzieherische Funktion des Gedenkens verlangt daher einen Übergang von der Gedenkpflicht zur Gedenkarbeit.
Die Vervielfachung der nationalen Gedenkfeiern in den letzten dreißig Jahren (von 4 auf 11 Tage) wirft Fragen über das Verhältnis unserer Gesellschaft zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Sie verkörpert auf jeden Fall die politische Anerkennung einer Diversifizierung der historischen Erfahrungen, denen ein gemeinsamer Sinn gegeben wird.
Eine soziale und politische Funktion
Bei den nationalen Gedenkfeiern wurde bis in die 1980er-Jahre der politische (14. Juli) oder militärische Sieg (Jeanne d’Arc, 11. November, 8. Mai) gefeiert, der das Bestehen der Nation begründet oder erhalten hat. Über das Gedenkereignis hinaus sollten sie daher durch dieses jährlich wiederholte Ritual das Zugehörigkeitsgefühl sozial und kulturell unterschiedlicher Menschen zur Nation sicherstellen. Obwohl sich diese nicht kennen, bekamen sie durch dieses Ritual das Gefühl einer gemeinsamen Vergangenheit und eines gemeinsamen Schicksals. Denn die Gedenkpraxis ist niemals nur eine Erinnerung an die Vergangenheit. Sie setzt den einzelnen Menschen wie auch die jeweilige gesellschaftliche Gruppe in eine zeitliche Beziehung, indem sie das vergangene Ereignis mit dem Blick in die Zukunft betrachtet. Darin liegt die zukunftsorientierte Dimension der Erinnerung, denn sie schafft Szenarien für die Zeit, die noch nicht gekommen ist. Die gesellschaftliche und politische Aufgabe der Gedenkfeiern am 11. November und am 8. Mai bestand darin, den Fortbestand der republikanischen Nation, die zwei Mal einer tödlichen Gefahr ausgesetzt war, durch Hervorheben ihres Siegs und damit ihres Überlebens umzusetzen. Sie gaben auch weiteren gemeinschaftlichen Projekten Nahrung, die in den Reden bei den Feierlichkeiten zum Thema wurden, wie dem Pazifismus (11. November) oder dem Kampf gegen den Faschismus (8. Mai).
Jugendliche Preisträger des Nationalen Wettbewerbs zum Widerstand und zur Deportation nehmen an einer Feier zur Wiederentzündung der Flamme des unbekannten Soldaten teil, 21. Januar 2019.
© Jacques Robert / SGA/COM
Der Grundsatz der Schuld
Die zweite Funktion der Gedenkhandlung spricht einen Vorgang an, bei dem die Zeitgenossen gegenüber jenen, die nicht mehr da sind und/oder jenen, die unser Dasein auf der Welt ermöglicht haben, in der Schuld stehen. Die Ausdrücke „zu Ehren von“, „in Erinnerung an“ und „für Frankreich gefallen“ ordnen diese zwischenmenschliche Dimension in der Sprache ein, die über Generationen ein Schuldverhältnis zwischen zwei Personen oder einer Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe schafft. Das Gedenken ist daher ein Akt der anschaulichen Darstellung, durch den Menschen über ihr Erinnern die Abwesenden wieder sichtbar machen, um die Schuld ihnen gegenüber in Ehren zu halten. Die Veteranen des Ersten Weltkriegs und die Widerstandskämpfer des Zweiten Weltkriegs waren deshalb Gegenstand der Gedenkfeiern, da sie bis zur Aufopferung gegen den Feind kämpften und so den Sieg und in der Folge das Überleben und den Fortbestand der Menschen sicherten, aus denen die nationale Gruppe besteht.
Dieses Gedenkmodell rund um die Schuld gegenüber jenen, die sich für das Überleben der nationalen Gemeinschaft geopfert haben, erfährt ab den 1990er-Jahren eine Veränderung. Auch wenn es nicht ganz verschwindet, stellt sich ihm ein anderes Modell gegenüber. Mit der Einführung der Gedenkfeiern vom Vel’ d’Hiv’ im Juli (1993), für die Harkis am 25. September (2003), die Sklaverei am 10. Mai (2006), für die Opfer des Algerienkriegs am 19. März (2012) bis zum jüngsten Gedenkprojekt der Terroranschläge (gewähltes Datum vom 11. März) hat sich die Gedenkkonjunktur tiefgreifend verändert. Es wird weniger auf die Nation und immer mehr auf die Menschenrechte Bezug genommen. Der Grundsatz der Schuld verlagert sich von den kämpfenden Helden zu den Opfern, die extreme Gewalt erlitten haben. Diese neuen Rituale verwandeln den Fortbestand des staatsbürgerlichen Lebens und die Verbindungen, die zwischen den Menschen über Generationen hinweg geschmiedet werden müssen, indem sie die den Opfern geschuldete Wiedergutmachung und ihre Eingliederung in die Nation als Ganzes neu gestalten. Nicht mehr die Erinnerung an die Siege und die Ehrung der Kämpfer haben die Lebensorgane der Nation aufrechterhalten, sondern die Eingliederung verschiedener Teile der nationalen Gruppe, welche Opfer der Geschichte wurden. Die Anerkennung der traumatischen Erfahrungen durch die Gemeinden gibt diesen neuen Gedenkritualen größtenteils Gestalt und lässt sie selbst zur symbolischen Wiedergutmachung gegenüber den Opfern werden.
Jugendliche nehmen am Tag des Gedenkens an die Völkermorde und gegen Verbrechen gegen die Menschheit an einer Veranstaltung in der Shoah-Gedenkstätte teil, 27. Januar 2019. © UNESCO/Fabrice Gentile
Bildung der Jugend
Gemeinsame Projekte, die diese Gedenkakte begleiten und legitimieren, setzen sich als Erwartungshorizont eine vorbeugende Funktion der Vergangenheit: sich an die Barbarei erinnern, um sich dagegen zu wappnen und dadurch deren Wiederholung zu verhindern. Nun sind die Schüler die ersten Adressaten dieser präventiven Gedenkpolitik, da die Weitergabe der Erinnerung an die Verbrechen als bestes Gegenmittel gilt, das die Jugend im Rahmen der Erziehung erhalten kann.
Den Schülern wird das Gedenken im Rahmen des Unterrichts vor allem durch nationale oder internationale Gedenktage vermittelt, wie den „Tag des Gedenkens an die Völkermorde und gegen Verbrechen gegen die Menschheit“, der seit 2002 jeweils am 27. Januar stattfindet. Sie wurden als besondere Gelegenheiten eingeführt, um eine Erziehung zum Bürgersinn durchzuführen, in der es um die Förderung von Toleranz, das Zusammenleben, die Demokratie, den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus sowie gegen die Holocaustleugnung geht. Es besteht die reale Gefahr, damit eine maßgebliche Pflicht bei den Schülern zu schaffen, die nur bewirkt, ihr eine Bedeutung beizumessen, die es zu beachten gilt. Das nationale moralische oder mitfühlende Credo steckt manchmal in den besten Absichten der Bildungsverantwortlichen und Politiker. Es erschien daher notwendig, diese Gedenkfeiern von der Gedenkpflicht zu trennen, um sie in eine Gedenkarbeit umzuwandeln, um den Begriff des Philosophen Paul Ricoeur zu übernehmen. Aber was bedeutet das abseits des Spiels mit Formulierungen?
Schüler nehmen an der Pantheonisierung von Germaine Tillion, Geneviève de Gaulle-Anthonioz, Pierre Brossolette und Jean Zay teil, 27. Mai 2015. © Philippe Devernay
Von der Gedenkpflicht zur Gedenkarbeit
Die Gedenkveranstaltungen sollen in der Schule eine kognitive Funktion erfüllen. Sie bieten die Gelegenheit, Geschichtskenntnisse zu vermitteln, während den Schülern die Unterschiede zu der sie umgebenden Welt gezeigt werden. Als Erinnerung an die Vergangenheit vermittelt das Gedenken deren Fremdheit und lehnt dabei jeden Anachronismus sowie jedes vorschnelle Urteil über die historischen Ereignisse und die einzelnen Menschen, die diese erlebten, ab. Das Erinnern ist eine Einladung dazu, eine Zeitreise zu machen, aus dem vertrauten Rahmen auszubrechen, sich von seinen Vorbildern der Gegenwart zu lösen und Verbindungen zu einem fremden Ort zu knüpfen, den wir geerbt haben.
Aber diese Erinnerung an die Vergangenheit betrifft uns auch in unserem gegenwärtigen Leben, da sie uns als Ressource dient. Historia magistra vitae (Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens), wie man in der Antike sagte. Durch die Erzählung von Situationen, Taten, Persönlichkeiten -Männern und Frauen- die für das Gemeinwohl eintraten, liefert die zitierte Vergangenheit Nahrung, indem sie für die Zeitgenossen ein Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt aufbaut, aus dem ein kollektiver Fortschritt hervorgeht. Der erzieherische Wert der Vorbildlichkeit der Vergangenheit liegt darin, dass sie den Schülern individuelle und gesellschaftliche Identifikationsmöglichkeiten bietet, die sie aufrichten, indem sie den Mut, die Wahrheit, die Solidarität, das Engagement und den Kampfgeist vermitteln. Diese wurden von den Menschen im Laufe der Geschichte als emanzipatorische Werte unter Beweis gestellt. Hier stoßen wir an die Grenzen einer rein präventiven Sicht der Vergangenheit, wie sie oben erwähnt wurde, einer Vergangenheit, die ausschließlich auf die Verbrechen bezogen war, die sich nicht wiederholen dürfen. Erinnern wir uns diesbezüglich an die ursprüngliche Gedenk- und Bildungsfunktion des Panthéon in der Französischen Revolution: die Aufnahme von Männern und Frauen, die durch ihr Handeln das Leben der nationalen Gemeinschaft vorangebracht haben. Das war auch der Sinn der Pantheonisierung von Geneviève de Gaulle-Anthonioz, Germaine Tillion, Jean Zay und Pierre Brossolette im Mai 2015 sowie jener von Simone Veil im Juli 2018.
Beispiel einer Projektdurchführung von Schülern der Grundschule Jean Zay in Croix (Nord),
Wettbewerb „Les Petits artistes de la mémoire“ (Die kleinen Künstler der Erinnerung), künstlerischer Schwerpunkt. © Laura Garnier ONACVG
Verstehen, woher wir kommen
Das Gedenken im schulischen Bereich bedarf auch einer geschichtliche Verfahrensweise: die Quellensuche durch die Schüler (Berichte, Objekte, Orte) und ihr Nutzen für die Kenntnis der Vergangenheit. In dieser Hinsicht war die Hundertjahrfeier des Ersten Weltkriegs ein pädagogischer Höhepunkt, der an vielen Orten zu Projekten und Erkenntnissen geführt hat, die das Wissen der Schüler bereichern.
Das Gedenken hat schließlich eine zeitliche Funktion. Es sorgt für eine chronologische Tiefe, indem die Erinnerung an ein Ereignis oder dessen Vergessen im Laufe der Zeit untersucht wird. Wie wurde der 11. November im 20. Jahrhundert gefeiert? Ab wann, mit wem und warum wurde der Razzia vom Vel’ d’Hiv’ gedacht? Was bedeutet das Datum des 19. März, dem seit 2012 landesweit gedacht wird, und welche Fragen des Gedenkens wirft es seit Ende des Algerienkriegs auf? Warum haben manche das nationale Gedenken des hundertfünfzigsten Jahrestages der Abschaffung der Sklaverei 1998 in Frage gestellt und es sich zur Aufgabe gemacht, des Sklavenhandels und der Sklaverei zu gedenken? Die Gedenkarbeit in der Schule behandelt auch die Entwicklung und die Veränderung der Beziehung der Menschen und der Gesellschaft zu einem Ereignis. Sie bewirkt, dass die Schüler die Zukunft eines historischen Ereignisses nicht als unabänderliche, natürliche Gegebenheit betrachten, sondern als soziales Konstrukt, das zwangsläufig zufällig ist. Die Gedenkpraxis bietet in dieser Hinsicht die Möglichkeit, den Schülern eine nicht lineare Sicht der Geschichte zu vermitteln. Diese Arbeit ist wertvoll, um spielerische Elemente - im Sinne des Abstands - in die Gedenkhandlung aufzunehmen und ein Überschreiben der Vergangenheit zu verhindern, die durch moralische und politische Vorgaben mitfühlender oder nationalistischer Art belastet ist.
Aus erzieherischer Sicht geht es daher bei den Gedenkfeiern mit der Vorbildfunktion der Vergangenheit als gemeinsame Ressource für die Gegenwart und die Zukunft auch darum, das zu lernen, was in der Ferne liegt und dass der Weg der Zeit ungewiss ist. Auf diese Weise hat der Schüler durch das Gedenken die Möglichkeit, sich in einen zeitlichen, historischen und nationalen Zusammenhang zu setzen.