Charles Lanrezac
Der in Pointe-à-Pitre (Guadeloupe) im Jahr 1852 geborene Charles Louis Marie Lanrezac zählt zu den eher untypischen militärischen Persönlichkeiten des Ersten Weltkriegs: Er zählt zu den Generälen, deren strategische Rolle sehr umstritten ist. Als Nachfolger von General Joffre am Vorabend der ersten Schlacht um die Marne verhindert er während den 32 Kampftagen die völlige Vernichtung der französischen Armee im August 1914.
Der aus Guadeloupe stammende Kreole Charles Louis Marie Lanrezac, Sohn des ranghohen Offiziers Victor Lanrezac, dessen Vater Auguste sich mithilfe falscher Papiere den Namen Lanrezac angeeignet hatte, Anagramm von Cazernal um die Anonymität zu wahren, entstammt einer Familie aus Toulouse mit niedrigen Adelsstand aus dem Geschlecht Augustin Théreze de Quinquiry d'Olive. Aufgrund dieser Abstammung war er gezwungen, sein Hab und Gut der „Cazernal“ – fehlerhafte Abschrift von „du Cabanial“ – zu verkaufen, bevor er nach Hamburg emigrierte, um dem Terror zu entfliehen. Die mit der Garnison verbundene und bescheidene Familie Lanrezac wohnt in Cherbourg. Charles erhält vom Präfekten der Manche ein Stipendium für die Kaiserliche Militärschule in Saint-Cyr, das er als 75. Bester von 250 Absolventen beendet. Im September wird er dann an das militärische Pyrtaneum in La Flèche geschickt. Kaum ein Jahr später wird Unterleutnant Charles Lanrezac am 14. Juli 1870 für das 13. Infanterieregiment abkommandiert.
Nachdem das Zweite Kaiserreich am 20. September abgesetzt wurde, fasst die Verteidigungsregierung den Entschluss, den Kampf durch Bildung neuer Armeen fortzusetzen. Der junge Soldat wird dem 15. Armeekorps zugeteilt, der späteren Armee der Loire, die von General de la Motte Rouge und später von General d'Aurelle de Paladines befehligt wird. Nachdem die französischen Positionen rings um Orléans vernichtend geschlagen waren, beginnt die Armee am 11. Oktober mit der Evakuierung der Stadt. Lanrezac überzeugt in der Schlacht um Coulmiers (9. November) und den Kämpfen nördlich von Orléans (24. November) durch seinen mutigen Einsatz, weshalb er provisorisch zum Leutnant ernannt wird und auf dem Schlachtfeld von der Ehrenlegion ausgezeichnet wird. Im Januar 1871 tritt sein Korps der Ostarmee unter General Bourbaki bei. Ihr Ziel ist die Befreiung von Belfort und das Zurückdrängen der Preußen aus dem Elsass. Dieser Versuch war vergeblich. Leutnant Lanrezac ist an den Kämpfen von Héricourt beteiligt (15. – 17. Januar) und verharrt mit seiner Einheit in Besançon, um den Rückzug der Armee zu decken. Nach der Schlacht von Larnod am 20. Januar entgeht er nur knapp einer Inhaftierung in der Schweiz.
Nach Kriegsende beendet Lanrezac in Saint-Cyr seine Ausbildung zum Offizier und tritt in Annecy seiner neuen Einheit, dem 30. Infanterieregiment bei. Seine politische Karriere verläuft somit sehr klassisch. 1873 heiratet er in Paris seine Ehefrau Félicie Marie-Louise Dutau, aus Réunion stammend und eine Cousine seiner Mutter. Nachdem er am 21. Februar 1876 zum Hauptmann des 24. Infanterieregiments ernannt wurde, erhält er 1879 seine Beförderung in den Generalstab. Er wird Professor für Militärkunst in Saint-Cyr, bevor er für 5 Jahre dem Generalstab der 113. Besatzungsbrigade in Tunesien beitritt. Dank seinem vorbildlichen Einsatz und seinen Führungsqualitäten wird er Professor an der höheren Kriegsschule. Im Juli 1892 wird er schlussendlich nach Dienstalter zum Bataillonschef ernannt.
Von 1896 bis 1899 dient er dem 104. RI in Paris. Gleichzeitig unterrichtet er Militärgeschichte sowie Strategie und Taktik an der Militärschule. Seine schillernde Persönlichkeit (die ihm bereits entsprechende Anmerkungen eingebracht hatte), seine fortschrittlichen pädagogischen Ansätze und sein Unterricht wurde von den Führungskräften geschätzt und auch seine Schüler waren von ihm begeistert. Als Oberstleutnant wird er 1898 zum stellvertretenden Direktor der höheren Kriegsschule. Drei Jahre später wurde er aufgrund seiner Verdienste zum Oberst befördert und erhält die Befehlsgewalt über das 119. RI von Paris, wo er sich „sowohl als guter Vorgesetzter des Korps als auch als hervorragender Lehrer verdient macht“.
Im März 1906 übernimmt er vorübergehend die 43. Brigade von Vannes und erhält im Mai die Sterne des Brigadegenerals verliehen. Er ist bekannt für die Achtung der Hierarchie und trägt als Leiter des Generalstabs Verantwortung für die Armee während der vorbereitenden Mobilisierung in den Vogesen im Jahr 1908. Sein Aufstieg setzt sich im Jahr 1909 fort: Im Mai wird er zum leitenden Kommandanten der Verteidigung für die Gruppen von Reims ernannt. Als Gouverneur wird er dann im August Mitglied des technischen Rats des Generalstabs, dem beratenden Organ des Kriegsministeriums. 1911 übernimmt er das Kommando über die 20. Infanteriedivision in Saint-Malo und wird im März zum Divisionsgeneral. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird General Lyautey auf Lanrezac aufmerksam, der am 13. November 1911 über ihn schreibt: „Wenn eine Armee über einen Vorgesetzten mit solch hohen Werten verfügt, muss dieser auch an erster Stelle stehen“. 1912 übergibt er ihm dann zusätzlich das Kommando über die Departements Finistère, Loire-inférieure (Loire-Atlantique), Morbihan und Vendée. Auf seinen Rat hin gibt er das Kommando am 10. April 1914 auf, um dem Großen Kriegsrat beizutreten. Als Nachfolger von General Galliéni übernimmt er am 24. April 1914 die 5. Armee und wird im Alter von 60 Jahren am Vorabend des Kriegsausbruchs zum Kommandant der Ehrenlegion ernannt.
Nach einer kurzen Versammlung des Generalstabs, die er aufgrund des Nichterscheinens von General Joffre für enttäuschend hält, übernimmt Lanrezac das Kommando über die 5. Armee. Vertraut mit der deutschen Sprache und Denkweise verfasst er am 31. Juli 1914 einen allgemeinen Bericht über die Bedeutung des Sektors Meuse. Dieses Dokument hat jedoch keinen weiteren Bestand. Ihm unterstehen 300.000 Soldaten, 800 Kanonen, 110.000 Pferde und 21.000 Fahrzeuge. In der ersten Hälfte des August errichtet er sein Stabsquartier in Rethel und konzentriert seine Truppen zwischen Vouziers und Aubenton, bevor sie sich in Richtung der Nordostgrenze bewegen. Am 6. August erhält er den Befehl die belgischen Truppen an der Meuse massiv zu unterstützen, nachdem die Deutschen, die bereits am 3. August in Belgien einmarschiert waren, die Stadt Lüttich besetzten. Lanrezac erhält die Genehmigung, eine Einheit in den Norden zu verlagern. Noch vor dem Fluss sollten sie am 15. August ein deutsches Kavalleriekorps im Sektor Dinant zum Rückzug zwingen. Diese Episode führt dazu, die unter der Führung von Lanrezac stehende Armee an der Nordfront einzusetzen (in Richtung Jeumont und Charleroi), wo die Briten unter Marschall French sowie die alliierten Armeen die Nordfront bis Maubeuge abdeckten. Beginnend am 21. August entscheidet sich Joffre für einen gezielten Angriff auf die belgische Front und die Ardennen. Die Gegner waren die 5. und 6. Armee des Reichs, die 2. Armee von Oberbefehlshaber von Bülow und der Armee von Generaloberst von Kluck. Zwischen dem 21. und 23. August verliefen die Auseinandersetzungen rings um Charleroi, Tamines, Roselies und Mons immer mehr zum Nachteil der französisch-britischen Truppen, die den Befehlen des Generalstabs folgten, jedoch hoffnungslos einem Feind gegenüber standen, der sich zurückzuziehen und zu verstecken verstand. Die französische Armee steht kurz vor der Einkesselung und dem vernichtenden Untergang. Am 23. August entscheidet sich Lanrezac entgegen der Anweisungen für den rücksichtslosen Kampf und befiehlt den Rückzug. Er kann den deutschen Armeen entkommen und billigt zwei Tage später die Aufgabe des Angriffsplans XVII. Dieses Vorgehen wurde von den Kreisen um Joffre als dreiste Herausforderung gewertet und er bekam die Feindseligkeiten ihm gegenüber zu spüren. Auf dieselbe Weise werden auch vom 26. bis 29. August 1914 die Kämpfe in Guise eingeleitet. Nach dem Erhalt des Befehls zum Angriff im Norden, zur Unterstützung des 2. britischen Korps, das in Cateau überrascht wurde, hat Lanrezac einen Tag Zeit, seiner Armee eine Verschnaufpause zu gönnen und den Angriff vorzubereiten. Am 29. August bringt er seine Truppen in Stellung: das 10. Korps nord-nordwestlich des südlichen Flusses Oise, in Richtung Guise, das 3. und 18. Korps der Reservetruppen entlang des Flusses, ausgerichtet in Richtung Westen gegenüber der Stellungen der Deutschen.
Der gemeinsam von den Batterien der 75. durchgeführte Angriff kommt für den deutschen Generalstab überraschend, woraufhin der Schlieffen-Plan aufgegeben wird. Paris wird gerettet. Von Bülow verzichtet darauf, Marschall French zu folgen, und kann der Bedrängung durch die 5. Armee nichts entgegensetzen. Letzterer wiederum kann einen Verteidigungssieg davontragen. Die Initiative bleibt jedoch nach wie vor in den Händen der 1. und 2. deutschen Armee, die versucht, Lanrezac und seine Männer einzukesseln, ohne Deckung an den Flanken und immer noch aus dem Rückhalt kämpfend. Die Franzosen erreichen die Marne, überwinden diese und richten in Sézanne das Generalquartier ein. Am 3. September wird Lanrezac von seinem Amt enthoben und durch General Franchet d'Espérey ersetzt. Zwei Tage später beginnt die erste Schlacht um die Marne.
Die Absetzung basierte auf verschiedenen Gründen: Starrsinn eines Vorgesetzten, der sich nur für seine eigenen Truppen interessierte, der es wagte, sich Befehlen zu widersetzen, das schlechte Verhältnis zu Marschall French, obwohl der französische Generalstab entsprechenden Einfallsreichtum an den Tag legte, um den Verbündeten zu schonen, die Anerkennung der deutschen Überlegenheit und des Schlieffen-Plans, der eher auf Angriff und Mobilität ausgerichtet ist, während Plan XVII nur auf die Konzentration der Truppen abzielt, die Notwendigkeit einen Schuldigen dafür zu präsentieren, um das Debakel der ersten Einsätze rechtzufertigen. Lanrezac schrieb hierzu später: „An der Stelle von General Joffre hätte ich genauso gehandelt. Wir waren in vielen Punkten unterschiedlicher Meinung, sowohl aus taktischer wie auch aus strategischer Sicht. Wir konnten einander nicht verstehen. Es war richtig von mir, von einer Kritik des Generals abzusehen, denn ich hatte nicht das Recht, seine Vorgehensweise auf anderen Kriegsschauplätzen zu beurteilen.“
Lanrezac wird General Galliéni, Militärgouverneur von Paris, unterstellt, der ihn nach Bordeaux schickt, nachdem die Regierung die Flucht ergriffen hatte. Ab Oktober wird Lanrezac mit punktuellen Missionen betraut: Inspektor der Ausbildungszentren der Militärschule in Saint-Cyr im Oktober 1914, Inspektor der Ecole normale supérieure und der forstwirtschaftlichen Schule im Jahr 1915, Generalinspektor der Infanterielager in der 19. und 20. Region im Februar 1916 usw. Ende 1916 wird er entlassen. Generalstab und Regierung ist es daran gelegen, die Ungerechtigkeit wieder gutzumachen und sie bieten ihm entsprechend hohe Posten an. Lanrezac lehnt diese Angebote ab und wird von General Lyautey zum Inspektor für die Infanterieausbildung ernannt. Der zum General beförderte Pétain verleiht ihm am 3. Juli des Großoffizierskreuz der Ehrenlegion: „Für seine Militärkunst und seine geschickte Vorgehensweise in schwierigen Kämpfen, in den er für unser Land entscheidende Erfolge erzielt und hervorragende Dienste geleistet hat“. Am 1. August 1917 beendet Charles Lanrezac aus gesundheitlichen Gründen den aktiven Dienst.
Der Versuch der Rehabilitation des Generals beginnt kurz darauf. In den Jahren 1917 und 1918 erscheinen mehrere Artikel von Engerand, Abgeordneter von Calvados, im Le Correspondant, die sich mit seiner Entlassung beschäftigen. General Maud'huy schreibt in einem im Gaulois 1920 veröffentlichten Artikel, dass Dank Lanrezac Frankreich in Charleroi gerettet wurde. General Palat informiert die Franzosen in seinem Werk Histoire de la Grande Guerre über den Respekt, der ihm von seinen ehemaligen Gegnern von Bülow und von Hausen entgegengebracht wurde. 1922 wird der abgesetzte General Lanrezac mit dem Großkreuz der Belgischen Krone und für seine Leistung in Charleroi mit dem Kriegskreuz mit Palme ausgezeichnet. Am 29. August 1924, dem Jahrestag der Schlacht von Guise, wird ihm das Großkreuz der Ehrenlegion verliehen. Das Gedächtnis an den General wurde rehabilitiert. Am 6. September werden ihm in Neuilly-sur-Seine von Marschall Pétain und dem Kriegsminister General Nollet, besondere Ehren zugesprochen.
Charles Lanrezac stirbt am 18. Januar 1925. Auf seinem Grabstein auf dem Montmartre steht geschrieben: „Für den Retter Frankreichs im August 1914.“
Als letzter Akt der Rehabilitation und der nationalen Anerkennung wird der Leichnam von General Lanrezac im Jahr 1933 in den Invalidendom überführt.