Das Gedenken an die Kolonialisierung und Dekolonialisierung
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Interview mit Gildas Riant - Lehrer für Geschichte und Geographie und Mitglied des CEREG
Gildas Riant ist Lehrer für Geschichte und Geographie. Er ist Mitglied des CEREG (Zentrum für Studien und Forschungen zum deutschsprachigen Raum) und arbeitet derzeit an seiner Doktorarbeit in Germanistik zum Thema „la colonisation dans les manuels scolaires d'histoire français, allemands et autrichiens depuis la fin des années 1980" (Die Kolonialisierung in den Geschichtsschulbüchern Frankreichs, Deutschlands und Österreichs seit den späten 1980er Jahren) an der Universität Paris 3 - Sorbonne Nouvelle.
Gildas Riant. © Rechte vorbehalten
Kann man in Frankreich und Deutschland von einem kolonialen Gedenken sprechen? Wie blickt jedes der beiden Länder auf seine eigene Kolonialzeit zurück?
Ein koloniales Gedenken setzt sich in beiden Ländern durch, aber die Intensität und die Chronologie dieses memorativen Aufschwungs weisen auf beiden Seiten des Rheins Besonderheiten auf. Die Kolonialisierung und die Dekolonialisierung haben dort nicht den gleichen Stellenwert, weder im kollektiven Gedenken noch in den Diskussionen der Öffentlichkeit. Dies hängt vor allem mit ihrer Vergangenheit zusammen, insbesondere mit ihrer kolonialen Vergangenheit, aber auch mit ihren gegenwärtigen Migrationsmustern.
In Frankreich ist die Erinnerung an eine jahrhundertealte Kolonialgeschichte seit den 1990er Jahren zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Man spricht von Hypermnesie und einem „Krieg der Erinnerungen". Kolonisierte, Kolonialherren oder heimgekehrte Siedler, Kämpfer der Kolonialkriege, aber auch Nachkommen dieser Zeitzeugen machen einen nicht unerheblichen Teil der französischen Bevölkerung aus. Sie haben eine vielfältige und gespaltene Erinnerung mit gegensätzlichen Darstellungen und manchmal auch Forderungen.
Deutschland befindet sich in einer deutlich anderen Situation. Die deutsche Kolonialisierung in Afrika, Asien und Ozeanien dauerte nur etwa 40 Jahre, zwischen 1884 und 1919 - wenn man von kurzen Versuchen im 17. und 18. Jahrhundert absieht. Sie erfolgte später und endete früher, nämlich 1919, als der Vertrag von Versailles Deutschland alle seine Kolonien entzog und ihm die Verwaltung einer mehr oder weniger gewalttätigen Dekolonialisierung ersparte. Das Ende des deutschen Kolonialreichs ist somit mehr als ein Jahrhundert alt. Außerdem kommt die Zuwanderung nicht überwiegend aus den ehemaligen deutschen Kolonien, auch wenn diese Zuwanderer Nachkommen von Personen sein können, die von anderen Ländern kolonisiert wurden. Die Kolonialzeit ist nach und nach aus dem kollektiven Bewusstsein der Deutschen verschwunden. Doch seit den 2000er Jahren wird sie wieder lebendig. Sie ist nun ein sensibles Thema, das zunehmend erforscht und diskutiert wird, wenn auch weniger intensiv als in Frankreich.
Karte der Kolonialreiche Frankreichs und Deutschlands. © Questions internationales, Nr. 107-108, „Géopolitique des océans", Mai-August 2021.
Gibt es in Deutschland eine Politik, die mit der Erinnerung an das Kolonialreich und die Dekolonialisierung einhergeht? Durch wen? Durch den Staat, Verbände usw.?
Der 2018 von CDU-CSU und SPD unterzeichnete Regierungsvertrag enthält in einem Absatz, in dem auch die nationalsozialistische und die kommunistische Diktatur erwähnt werden, ausdrücklich die Notwendigkeit der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und des kolonialen Gedenkens. Die Kolonialisierung wird zunehmend Teil der Gedenkpolitik des deutschen Bundesstaates. Dabei geht es um nationale und internationale, politische und diplomatische Fragen. Namibia, das ehemalige Deutsch-Südwestafrika, nimmt eine Sonderstellung ein. Nach einem Jahrzehnt der Debatte erkannte Deutschland 2015 offiziell die Niederschlagung des Aufstands der Herero und Namas (1904-1907) als Völkermord an. Im Jahr 2018 gab das Land Schädel und andere Gebeine zurück. Die Frage nach Entschuldigung und Wiedergutmachung bleibt jedoch weiterhin ungeklärt.
Die Gedenkpolitik wird aber auch von anderen, öffentlichen oder privaten Akteuren gestaltet. Kommunen unterstützen Vereine, die unter einer postkolonialen Perspektive daran arbeiten, die Spuren der kolonialen Vergangenheit in der Öffentlichkeit zu identifizieren und möglicherweise zu beseitigen. Diese militante Bewegung entstand bereits in den 1980er Jahren mit Aktionen zur Umbenennung von Straßen, nimmt jetzt aber eine neue Dimension an. Die mediale Aufmerksamkeit trägt zur Reaktivierung des kolonialen Gedenkens in Deutschland bei.
Im Gegensatz dazu gibt es aus dem bereits genannten Grund keine Gedenkpolitik in Bezug auf die Dekolonialisierungen.
Deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika (heute Namibia). Herero-Gefangene, die von einem Soldaten bewacht werden, 1904. © Roger-Viollet
In Frankreich ist die Erinnerung an die Kolonialkriege Gegenstand nationaler Gedenktage, aber auch von temporären oder permanenten Ausstellungen in unseren Museen. Wie sieht es in Deutschland aus?
Während sich die Frage des Gedenkens an die Dekolonialisierungskriege in Deutschland nicht stellt, ist das Gedenken an Militärs, die an der kolonialen Expansion beteiligt waren, inzwischen ebenso umstritten, wie der Fall von General Lettow-Vorbeck zeigt. Der Anführer der deutschen Kolonialtruppen in Ostafrika während des Ersten Weltkriegs starb 1964 mit offiziellen Ehren, doch von nun an waren die nach ihm benannten Kasernen Gegenstand von Diskussionen.
Es werden immer mehr Ausstellungen veranstaltet. Museen gestalten ihre Sammlungen um oder bieten temporäre Ausstellungen an, einige davon aus postkolonialer Perspektive. So organisierte das Münchner Stadtmuseum 2013-2014 eine Ausstellung mit dem eindeutigen Titel: „Decolonize München". Das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin, das der Kolonialzeit in seinen ständigen Sammlungen nur einen begrenzten Platz einräumt, widmete dem „deutschen Kolonialismus" 2016-2017 ebenfalls eine Sonderausstellung.
Die Kontroversen um das Humboldt-Forum veranschaulichen das Erwachen der deutschen kolonialen Erinnerung. Zwei Fragen beherrschen die Kontroversen um die Unterbringung der Sammlungen aus dem Ethnologischen Museum Berlin und der Humboldt-Universität im wiederaufgebauten Hohenzollernschloss im Herzen Berlins: der Kontext, in dem diese Sammlungen erworben wurden, und die Legitimität dieser Art von Museum, das beschuldigt wird, koloniale Vorstellungen zu reproduzieren, indem es westliche Kultur und außereuropäische Kulturen gegenüberstellt. Die Rolle, die die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy spielte, die 2018 Mitautorin eines „Berichts über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes" war, unterstreicht die transnationale Dimension dieser Debatten mit deutsch-französischem Transfer.
Humboldt Forum, Berlin, 12. Februar 2021. © Riesebusch
Welche Erwartungen haben die Öffentlichkeit, die Kriegsveteranen oder auch die Verbände auf beiden Seiten des Rheins an dieses Gedenken?
Es dürfte heikel sein, die Erwartungen der Öffentlichkeit an das koloniale Gedenken zu verallgemeinern. Auf beiden Seiten des Rheins gibt es, wie in anderen westlichen Gesellschaften auch, eine Meinungsströmung, die eine stärkere Berücksichtigung der kolonialen Vergangenheit fordert und die Dauerhaftigkeit kolonialer Darstellungen, insbesondere rassistischer Darstellungen, kritisiert. Die jüngsten Aktionen gegen die Statuen von Colbert und Bismarck sind Teil dieser internationalen Dynamik.
Diese Forderungen werden in Frankreich stärker thematisiert, wo die Meinung gespaltener ist, wie die Debatten im Jahr 2005 über das Gesetz, das den Unterricht über die positiven Auswirkungen der Kolonialisierung vorschreibt, gezeigt haben. Die jeweiligen Gedenkforderungen der Zeitzeugen der Kolonialisierung und der Dekolonialisierungskriege oder ihrer Nachkommen prallen aufeinander. Außerdem nehmen die Dritte Französische Republik und das Zweite Deutsche Kaiserreich, die Regimes, die die koloniale Expansion Ende des 19. Jahrhunderts anführten, in den Vorstellungen der beiden Länder nicht denselben Platz ein. In Frankreich stößt die Infragestellung des politischen oder militärischen Personals des Regimes, das auch die Demokratie etablierte und den Ersten Weltkrieg gewann, auf größere Vorbehalte.
Verunstaltung der Colbert-Statue in Paris, 23. Juni 2020. © Samuel Boivin/NurPhoto/NurPhoto via AFP
Welchen Platz nimmt diese Erinnerung in den französischen und deutschen Schulbüchern ein?
Der Stellenwert dieser Erinnerung in den Schulbüchern spiegelt die Entwicklung der Lehrpläne wider. Es ist schwierig, den deutschen Fall zu verallgemeinern, da das Bildungswesen in Deutschland ein regionales Anliegen ist. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK), ein überregionales Gremium, das für die Harmonisierung der Lehrpläne zuständig ist, hat jedoch 2014 eine Richtlinie herausgegeben, in der sie empfiehlt, das Thema Kolonialismus in den Unterricht einzubeziehen.
Seit den 2000er Jahren sind in beiden Ländern gemeinsame Entwicklungen zu beobachten. Die koloniale Vergangenheit nimmt einen größeren Raum ein, wobei den negativen Auswirkungen auf die kolonisierte Bevölkerung mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie wird nun in eigenen Kapiteln behandelt. Auch die nationale Kolonialisierung ist mit einem algerischen Schwerpunkt in Frankreich und einem namibischen Schwerpunkt in Deutschland stärker ausgeprägt. Die Bundesländer Berlin und Brandenburg haben 2015 neue Lehrpläne für die erste Stufe der Sekundarschule verabschiedet. Darin wird die Kolonialfrage in mehreren Kapiteln auf zwei Ebenen behandelt. Eine Langzeitstudie über „Europäische Expansion und Kolonialismus vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert" regt unter anderem an, den Kolonialismus und den Sklavenhandel im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel von Preußen und Brandenburg zu betrachten. Thematische Studien integrieren koloniale Darstellungen oder Gewalt in umfassendere historische Perioden oder Prozesse: die Konstruktion des „Anderen" durch „rassistische Stereotypen seit dem Imperialismus" wie auch die Ausrottung der Herero und Nama im Teil über Völkermord und Massenverbrechen im 20. Jahrhundert. Auch wenn diese Themen in den Lehrbüchern näher erläutert werden, kann es dennoch sein, dass sie im Unterricht nicht behandelt werden, da es sich um freiwillige Module handelt.
Auch die koloniale Erinnerung ist ein erklärter Lerngegenstand. Die Unterschiede zwischen den beiden Ländern spiegeln spezifische didaktische Ansätze wider. In Frankreich ist die Erinnerung stärker geschichtsbezogen. Im Jahr 2011 wurde in der Oberstufe eine „historische Lesung" der Erinnerungen an den Algerienkrieg eingeführt - wahlweise zusammen mit den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. In Deutschland ist es eher die in der heutigen Gesellschaft vorhandene Erinnerung, die den Schülern als Grundlage dient, um über zeitgenössische Themen wie Rassismus nachzudenken und Stellung zu beziehen, insbesondere wenn der Geschichtsunterricht fächerübergreifend erteilt wird.
Wie wird diese Erinnerung neben dem Unterricht im Klassenzimmer an die jüngeren Generationen in Frankreich und Deutschland weitergegeben? Gibt es eine Weitervermittlung innerhalb der Familien?
In Frankreich hat ein großer Teil der Bevölkerung potenziell eine familiäre Erinnerung an die Kolonialisierung. Diese Erinnerung wird auch durch andere Vektoren wie Kino, Literatur oder Lieder, insbesondere Rap, weitergegeben. In Deutschland ist die Situation deutlich anders. Es gibt wenig oder keine Weitergabe von Familienerinnerungen, zumindest was die deutsche Kolonialisierung betrifft. Die zeitliche Distanz ist zu groß, als dass es eine Weitergabe durch lebende Zeitzeugen geben könnte. Die filmischen oder literarischen Produktionen zu diesem Thema sind weniger umfangreich und richten sich nicht vorrangig an Jugendliche.
War Deutschland wie Frankreich auch mit der Ablehnung eines Teils dieser Geschichte konfrontiert?
Mehr als eine Ablehnung gab es in Deutschland eher eine Phase der Amnesie, die vor allem auf die zeitliche Entfernung und die Bedeutung anderer Zeiträume im kollektiven Bewusstsein zurückzuführen ist. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg (zu der auch die Erinnerung an die DDR hinzukam) hat die deutsche Gedenklandschaft bestimmt und dominiert sie noch immer. Diese Erinnerung wirft auch einen Schatten auf die Erinnerung an die Kolonialisierung. Während der Begriff des deutschen Sonderwegs umstritten ist, hinterfragen Historiker die Kontinuität zwischen der Kolonialisierung und dem Dritten Reich, insbesondere im Hinblick auf den Völkermord in Namibia.
Der Begriff Amnesie bleibt im Übrigen diskussionswürdig. Die koloniale Erinnerung blieb in den 1920er und 1930er Jahren präsent, zum Teil gestützt auf eine Politik der Neuauflage des Versailler Vertrags. Die deutsche Kolonialgeschichte wurde in der DDR auch aus ideologischen Gründen mit einer marxistischen Interpretation des Kolonialismus aufgearbeitet. Ostdeutsche Historiker hatten Zugang zu den Archiven der für die Kolonialisierung zuständigen Ministerien, die in Potsdam aufbewahrt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland haben sich seit Mitte der 1960er Jahre und dann vor allem in den 1980er Jahren Historiker und Vereine mit diesen Fragen befasst. Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen, die durch eine Wiederbelebung der Kolonialgeschichte seit den 2000er Jahren und eine größere Sensibilität der Öffentlichkeit für postkoloniale Problematiken gekennzeichnet sind, blieb das Thema eher marginal.
Welche Herausforderungen sind heute mit dieser Erinnerung verbunden, insbesondere im Hinblick auf Unterricht und Weitergabe?
In seinem 2021 vorgelegten Bericht über „Erinnerungsfragen zur Kolonialisierung und zum Algerienkrieg" betont Benjamin Stora die Gefahr einer „Vergemeinschaftung der Erinnerungen" und die Schwierigkeit, in einem Kontext, in dem diese Erinnerungen wachgerufen werden und aufeinanderprallen, eine gemeinsame Darstellung zu erarbeiten. Diese Feststellungen lassen sich ganz allgemein auf das koloniale Gedenken ausdehnen. Der Geschichtsunterricht muss zusammen mit anderen Fächern eine wichtige Rolle spielen, und diese darf nicht auf den therapeutischen Zweck der erinnerungspolitischen Versöhnung reduziert werden. Das koloniale Gedenken ist ein brisantes Thema, das alle Ziele der in der Schule vermittelten Geschichte in Frage stellt und mobilisiert: staatsbürgerliche, kulturelle oder identitätsbezogene und intellektuelle Ziele.
Dabei dominieren in beiden Ländern zwei Herausforderungen. Die erste betrifft den Stellenwert und die Art der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in den Lehrplänen. Sie ist mit der weiter gefassten Frage der Einbeziehung von Minderheitengeschichten oder -erinnerungen verbunden, insbesondere derjenigen, die von Kindern mit Migrationshintergrund eingebracht werden. Diese Frage ist nicht neu, erhält aber durch den demografischen Wandel eine neue Dimension. In Frankreich ist die Debatte lebhafter und polarisierender. Sie wird regelmäßig anlässlich von Lehrplanänderungen oder Wahlen in den Medien thematisiert. Sie stellt diejenigen, die „Reue" oder einen „nationalen und kolonialen Sadomasochismus" ablehnen, und diejenigen, die ein „koloniales Kontinuum" im republikanischen Projekt anprangern, einander gegenüber.
Die Durchsetzung des Unterschieds zwischen Erinnerung und Geschichte stellt eine zweite Herausforderung dar. Die historische Methodik beinhaltet kritische Distanzierung, Kontextualisierung und die Berücksichtigung der Vielfalt von Standpunkten. Sie ermöglicht es, die Komplexität historischer Situationen und Erinnerungskonstruktionen zu analysieren. Die Unterscheidung zwischen Wissen und Anerkennung, zwischen Geschichte und Gedenken erscheint jedoch theoretisch, wenn von der Schule nicht nur die Vermittlung einer gemeinsamen Geschichte, sondern auch die Schaffung eines kollektiven Gedenkens verlangt wird.