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Das Verhältnis der französischen Gesellschaft zur Erinnerung

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Zeremonie zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands des Ersten Weltkriegs, Paris, 11. November 2018. © Eric FEFERBERG/AFP

Die Franzosen haben nachweislich eine Vorliebe für Geschichte und die Erinnerung an Ereignisse, die ihre Vergangenheit geprägt haben, doch drückt sich diese je nach Konflikt und Person nicht einheitlich aus. Sie zeigt sich vor allem in der Form des Gedenkens.

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Der Umgang der französischen Gesellschaft mit der Erinnerung zu beschreiben, ist auf den ersten Blick eine einfache Sache: „Les Français ont la passion du passé" (Die Franzosen haben eine Vorliebe für die Vergangenheit) (Anm. d. Verf.: Der Begriff „die Franzosen" bezieht sich hier auf „die französische Gesellschaft" und schließt de facto auch Frauen und Männer ein, die nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzen). Tatsächlich hat diese Aussage den Wert einer Binsenweisheit. Sie geht oft mit zwei scheinbar widersprüchlichen Auffassungen einher. Einerseits ist es die Erinnerung, die in Frankreich eines der wichtigsten Fundamente für die kollektive Bindung zwischen den Bürgern ungeachtet ihrer Unterschiede darstellt. Andererseits ist die Erzählung der Vergangenheit ein wiederkehrendes Thema für politische Konflikte und mediale Kontroversen auf der öffentlichen Bühne.

Auch wenn es unmöglich ist, dieses Paradoxon im Rahmen eines kurzen Artikels aufzulösen, regt diese Feststellung dazu an, sich zu fragen: Für welche Erinnerung(en) interessiert sich die französische Gesellschaft? Und was denken die Franzosen über das Gedenken? Rund 100 Meinungsumfragen, die in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, ermöglichen es, einige Antworten auf diese beiden Fragen zu umreißen [1].

Der Krieg als zentrales Thema im Verhältnis der französischen Gesellschaft zur Erinnerung

Natürlich variiert der Umgang jedes Einzelnen mit der Erinnerung je nach sozioökonomischen, generationellen, wohnortbezogenen, geschlechtsspezifischen oder auch parteipolitischen Merkmalen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die beiden Weltkriege, und vor allem der Zweite Weltkrieg, sind jedoch ein weithin gemeinsamer historischer Bezugspunkt. Seit 2016 befragen das Forschungsprogramm „13 Novembre" und das Crédoc jährlich die Franzosen: „Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste historische Ereignis, das seit 1900 in Frankreich oder in der Welt stattgefunden hat?" [2]. Obwohl das Thema Covid-19 im Januar 2021 in den Medien sehr präsent war und von 16 % der Menschen erwähnt wurde, lag der Zweite Weltkrieg mit insgesamt 33 % der Nennungen sehr weit vorne. Der Erste Weltkrieg hingegen lag mit 13 % knapp dahinter. Bereits 2017 war der Zweite Weltkrieg und in geringerem Maße der Erste Weltkrieg Gegenstand von 34 % der Antworten auf eine ähnliche Frage, während der Algerienkrieg nur knapp 1 % und der Terrorismus, der damals ebenfalls im Mittelpunkt stand, nur 10 % der Antworten ausmachte [3].

 

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Zeremonie anlässlich des 75. Jahrestags des Sieges vom 8. Mai 1945, Paris, 8. Mai 2020. © Laurent Blevennec/Présidence de la République

 

Im Mai 2020 machte eine Umfrage in 28 Ländern erneut deutlich, wie wichtig die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die Franzosen ist [4}. 69 % hielten es für wichtig, Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des Sieges der Alliierten über Nazi-Deutschland abzuhalten, während nur 7 % das Gegenteil dachten. Diese zentrale Bedeutung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die französische Gesellschaft lässt sich nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in relativer Hinsicht feststellen. 53 % der Franzosen sind der Ansicht, dass der Konflikt sie „auch heute noch betrifft", gegenüber 34 % der Deutschen. Und bereits im Mai 2015 hielten 92 % der Befragten in Frankreich die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai für einen wichtigen Moment, während es in Deutschland 78 % waren [5}. Nicht zuletzt und abgesehen von der Stärkung des Gefühls einer Schicksalsgemeinschaft auf nationaler Ebene stellt die Erinnerung an den Krieg von 39-45 für die Franzosen die wichtigste Grundlage für das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa dar. Ebenfalls im Jahr 2015 waren 78 % der Franzosen der Ansicht, dass „der Zweite Weltkrieg wirklich ein Bedürfnis nach Einheit in Europa geschaffen hat", während es bei den Deutschen nur 56 % waren [6]. Und 69 % der Befragten in Frankreich gaben an, dass ihnen Europa insbesondere „als Raum mit gemeinsamer Geschichte und gemeinsamem Erbe" am Herzen liegt, während es nur 44 % waren, wenn Europa „als politische Institution" dargestellt wurde. [7}.

 

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Zeremonie zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands des Ersten Weltkriegs, Paris, 11. November 2018. © Eric Feferberg/AFP

 

Der Erste Weltkrieg schließlich ist in der Erinnerung der Franzosen zwar weniger dominant, nimmt aber auch dort einen wichtigen Platz ein. So erklärten beispielsweise im November 2018, als sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal jährte, 46 % der Befragten, dass sie sich die Übertragung der Gedenkfeiern ansehen wollten [8]. So ist es bei weitem zuerst das Wort „Krieg", das am spontansten genannt wird, wenn die Franzosen gefragt werden, welche Wörter ihnen in den Sinn kommen, wenn sie „an das Thema Geschichte denken, d. h. an die Beschäftigung mit vergangenen Fakten und Ereignissen" [9]. Das Gedenken ist für die französische Gesellschaft in erster Linie das Gedenken an den Krieg und vor allem an die beiden Weltkriege.

Die Akzeptanz des Prinzips der Gedenkfeiern in der französischen Gesellschaft

Abgesehen von der angesprochenen Vergangenheit wird das Prinzip der Pflege des kollektiven Gedenkens von der französischen Bevölkerung befürwortet. Im Januar 2016 stimmten 85 % der Franzosen folgender Aussage zu: „Es ist in Frankreich von größter Bedeutung, großen Ereignissen der Vergangenheit zu gedenken, um die Erinnerung an sie an die jüngeren Generationen weiterzugeben" [10]. Diese Befürwortung des Gedenkprinzips geht über das Gedenken an die beiden Weltkriege hinaus. So hielten es 2012 81 % der Befragten für „gerechtfertigt", dass am 50. Jahrestag des Endes des Algerienkriegs eine „Erinnerungszeremonie" in Anwesenheit des Staatspräsidenten stattfand [11]. Außerhalb der beiden Weltkriege scheint der Grundsatz des jährlichen Gedenkrahmens für historische Ereignisse in der Öffentlichkeit jedoch weniger etabliert zu sein. Im Jahr 2017 waren 93 % der Franzosen der Ansicht, dass der 8. Mai „jedes Jahr begangen werden sollte", und 89 % waren der Meinung, dass dies auch für den 11. November gelten sollte. Im Gegensatz dazu befürworteten weitaus weniger Menschen eine solche jährliche Zeremonie für die Anschläge vom 13. November 2015 (53 %), den 19. März 1962 (44 %) oder auch den Mai 1968 (36 %) [12].

 

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Zum Gedenken an die Opfer der Anschläge vom 13. November 2015 wurden vor den Gedenktafeln
anlässlich des ersten Jahrestages der Tragödie Kerzen angezündet. Paris, Sonntag, 13. November 2016. © Denis Meyer/Hans Lucas/Hans Lucas via AFP

 

Die Erwartungen der französischen Gesellschaft an die jährlichen Gedenkfeiern der Weltkriege zeigen jedoch relatives Festhalten an einer Unterscheidung zwischen den beiden Ereignissen. Im Jahr 2011, als die Franzosen über die geplante Einführung eines „Memorial day" [13] befragt wurden, befürworteten 64 % die Einführung, während 36 % sich für die Beibehaltung des 11. Novembers aussprachen, um „die Besonderheit des Ersten Weltkriegs nicht zu minimieren". In diesem Punkt gab es eine deutliche Differenzierung zwischen den Altersgruppen, da 45 % der unter 35-Jährigen die Sonderstellung des 11. Novembers beibehalten wollten, während nur 26 % der über 65-Jährigen dieser Meinung waren.

Die „jungen Menschen", diese „zukünftigen Generationen", sind in der Tat die vorrangigen Zielpersonen der Gedenkfeiern. In diesem Punkt scheint es, dass die Jugend in Frankreich mehr als anderswo für diese Erinnerungsträger empfänglich ist. Eine große vergleichende Umfrage, die 2015 unter 16- bis 29-Jährigen durchgeführt wurde, liefert in der Tat interessante Einblicke [14]. Die Befragten wurden in Form von zwei Einzelfragen wie folgt gefragt: „Auf welche Art und Weise haben Sie Ihr Wissen über den Ersten Weltkrieg/den Zweiten Weltkrieg erworben?" Unter den vorgeschlagenen Antworten gab es den Punkt „durch Gedenkfeiern, Zeremonien". Diese Antwort wurde von den befragten jungen Menschen nur selten gegeben. Von den 31 befragten Ländern haben lediglich 7 einen Prozentsatz von 10 % oder mehr. In Frankreich gaben 15 % der jungen Leute an, dass sie durch die Gedenkfeiern ihr Wissen über den Ersten Weltkrieg erworben haben, in Deutschland waren es 2 % und in Großbritannien nur 9 %, und das zu einer Zeit, als die Hundertjahrfeiern in Großbritannien in vollem Gange waren. Das gleiche Verhältnis besteht bei den Gedenkfeiern zum Zweiten Weltkrieg, da 14 % der jungen Franzosen sie als wirksamen Erinnerungsträger bezeichneten, während es bei den Deutschen nur 1 % und bei den Briten 8 % waren.

 

Visite d’un groupe scolaire

Besuch einer Schulgruppe in der Dauerausstellung des Mémorial de la Shoah, Paris, 17.06.2019.
© Mémorial de la Shoah/Photo Colombe Clier

 

Diese allgemeine Akzeptanz der Wirkung von Gedenkfeiern in der französischen Gesellschaft findet sich auch in der erwachsenen Bevölkerung. 2015 antworteten auf die Frage „Wenn Sie an den Zweiten Weltkrieg denken, geschieht dies vor allem durch..." 31 % der Befragten in Frankreich mit „Gedenkfeiern", in Deutschland waren es 24 % [15]. Ebenso hebt eine Umfrage „zu den Medien, die über den Völkermord an den Juden informieren" die Bedeutung von Gedenkfeiern hervor, da dieser Vektor nach der Schule und Filmen, Büchern, Dokumentar- oder Spielfilmen und direkt nach der Weitergabe innerhalb der Familie (17 %) gleichauf mit der Presse und den Medien (16 %) und vor Museen und Ausstellungen oder dem Internet rangiert [16]. Diese besondere Bedeutung von Gedenkfeiern zeigt sich auch darin, dass 24% der Befragten sie als eines der „besten Mittel, um die Erinnerung an die großen Ereignisse der französischen Geschichte wachzuhalten" ansehen. [17].

Wie sieht daher die Zukunft der Erinnerung für die französische Gesellschaft aus? Im Januar 2016 waren 59 % der Franzosen der Ansicht, dass „im kollektiven Gedenken nicht nur positive Ereignisse, die die Werte von Heldentum und Freiheit vermitteln, bewahrt werden sollten" [18]. Am höchsten war dieser Anteil mit 70 % bei den 18- bis 24-Jährigen und am niedrigsten mit 55 % bei den über 65-Jährigen. Im Jahr 2019 waren 57 % der Franzosen der Ansicht, dass nicht genug über Sklavenhandel und Sklaverei geredet wird. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es 60 %, bei den über 60-Jährigen 56 % [19]. Die vorhandenen Daten zeigen also, dass die jüngeren Generationen nicht nur sehr stark am Prinzip der Gedenkfeiern, insbesondere der beiden Weltkriege, festhalten, sondern auch eine größere Bandbreite der Gedenkvergangenheit befürworten. Die Zukunft des Gedenkens muss also noch geschrieben werden.

 

Sarah Gensburger - Forschungsleiterin am CNRS
Autorin (mit S. Lefranc) von À quoi servent les politiques de mémoire?, Presses de Sciences Po, 2017
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Einige im Artikel zitierte Umfragen über die Franzosen und das Gedenken

1 Es wurde eine systematische Suche auf den Websites von IFOP, IPSOS, BVA, CSA, Harris Interactive, Odoxa, Viavoice und YouGov nach den Schlüsselwörtern „Erinnerung", „Gedenken" und „Geschichte" durchgeführt. Es wurden 121 Umfragen zusammengetragen, die sich auf den Zeitraum 1986-2021 beziehen. Diese Erfassung wurde von Yseult Lesage im Rahmen ihres Praktikums am Institut des Sciences sociales du Politique (UMR 7220) durchgeführt. Die Umfragen im Folgenden wurden alle anhand von so genannten repräsentativen Stichproben nach der Quotenmethode und, sofern nicht anders angegeben, bei Personen im Alter von 18 Jahren und älter durchgeführt.

2 https://www.credoc.fr/publications/la-memorisation-des-attentats-du-13-novembre-2015-deux-ans-et-sept-mois-apres-vaguede-juin-2018

3 Les Français et la mémoire collective, sondage réalisé par l’IFOP, en janvier 2016.

4 75th anniversary of the End of World War II : A Global View, sondage IPSOS, mai 2020, auprès de personnes âgées de 16 à 74 ans. 20% se disaient sans opinion.

5 1945-2015. France-Allemagne : de la guerre à l’Europe, Mémoire de guerre et idée européenne, Sondage Viavoice, échantillon de 1000 personnes en France et de même en Allemagne.

6 1945-2015. France-Allemagne, Op. cit.

7 Le regard des Français sur l’Europe, sondage l’IFOP, en octobre 2016.

8 Les Français et le centenaire de l’Armistice de 1918, sondage BVA, mai 2018.

9 Les Français et l’Histoire, sondage Harris Interactive, février 2019.

10 Les Français et la mémoire collective, sondage IFOP, janvier 2016.

11 Les Français et la commémoration de la fin de la guerre d’Algérie, sondage IFOP, janvier 2012.

12 Les Français et la commémoration de différentes événements historiques, sondage IFOP, novembre 2017.

13 Les Français et le projet d’instaurer un "memorial day", sondage IFOP, septembre 2011.

14 Mémoires d’avenir. Enquête sur la mémoire du XXe siècle de la Fondation pour l’innovation politique et la Fondation pour la mémoire de la Shoah.

15 1945-2015. France-Allemagne : de la guerre à l’Europe, Mémoire de guerre et idée européenne, Op.cit.

16 L’Europe et les génocides : le cas français, sondage réalisé par l’IFOP et la Fondation Jean-Jaurès, novembre 2018.

17 Les Français et l’Histoire, Sondage BVA, février 2016.

18 Les Français et la mémoire collective, Op.cit.

19 CNDH, La lutte contre le racisme, l’antisémitisme et la xénophobie. Année 2019, 2020.