Die Geschichte der deutsch-französischen Aussöhnung
Von den Anfängen des Krieges von 1870 bis heute haben die deutsch-französischen Beziehungen ein ständiges Auf und Ab erlebt, wobei die beiden Weltkriege den größten Bruch symbolisierten. Das Ende des 20. Jahrhunderts läutete die Zeit der Entspannung ein und ebnete den Weg für einen echten Versöhnungsprozess. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind das Ergebnis jahrelanger schrittweiser und intensiver Zusammenarbeit, aber sie sind auch untrennbar mit dem europäischen Aufbau verbunden.
75 Jahre lang war die Mitte des europäischen Kontinents vom Takt der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland geprägt: dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 und den beiden Weltkriegen. Der Preis dafür war entsetzlich: über 70 Millionen Tote in Europa und der Welt, davon 13 Millionen in Deutschland und Frankreich. Über den noch schwelenden Trümmern dieser Tragödien hat sich der Lauf der Geschichte jedoch umgekehrt: Die deutsch-französische Aussöhnung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur Triebfeder für den friedlichen (Wieder-)Aufbau Europas.
Der lange Weg von der Feindschaft zur Eintracht
Die Kriege, die seit den Napoleonischen Kriegen das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, hatten den „Erbhass" zwischen Deutschland und Frankreich in den Köpfen der Menschen verankert. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es lobenswerte Bemühungen, Brücken zwischen Frankreich und dem damaligen Heiligen Römischen Reich zu schlagen – Die Romanautorin Madame de Staël versuchte, die Deutschen für die Franzosen attraktiver zu machen, und der Schriftsteller Heinrich Heine unternahm ähnliche Anstrengungen auf der anderen Seite des Rheins. Ihre Stimmen waren jedoch vereinzelt und scheiterten am nationalen Rückzug.
Zwischen den beiden Weltkriegen gab es weitere Versuche: Die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Aristide Briand und Gustav Stresemann, hatten große Anstrengungen unternommen, um die durch den Ersten Weltkrieg verursachten Wunden zu heilen und den Weg für konstruktive Beziehungen zu ebnen - Bemühungen, die 1927 mit dem Friedensnobelpreis belohnt, aber durch die Wirtschaftskrise und den Aufstieg des Nationalsozialismus zunichte gemacht wurden.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang es einer Reihe von französischen und deutschen Politikern, sich dem Dilemma der deutsch-französischen Konflikte zu entziehen. Während das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 vor der französischen Nationalversammlung an der Angst vor der deutschen Wiederaufrüstung scheiterte, kam es bereits Ende der 1940er Jahre zu einer deutsch-französischen „Annäherung", die durch den Aufbau eines Netzwerks menschlicher Infrastruktur um Persönlichkeiten wie Abbé Franz Stock, den Jesuiten Jean du Riveau, den Gründer der Widerstandsbewegung „Combat" Henry Frenay oder den Politologen Alfred Grosser und den Aufbau eines Netzwerks öffentlicher und privater Strukturen zustande kam: Das Comité français d'échanges avec l'Allemagne nouvelle und das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg wurden 1948 gegründet, die interkommunalen Partnerschaftskomitees wurden ab 1950 von den Städten Montbéliard und Ludwigsburg initiiert, und schließlich wurde 1955 die Deutsch-Französische Industrie- und Handelskammer gegründet.
Joseph Rovan, ein ehemaliger Dachau-Deportierter und späterer Freund und Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, veröffentlichte übrigens bereits im Oktober 1945 in der Zeitschrift Esprit einen emblematischen Artikel über Deutschland, der mit seinen prophetischen Untertönen einen bedeutenden Einfluss auf die deutsch-französischen Beziehungen und den europäischen Einigungsprozess hatte. Darin erklärte er, dass es eine europäische Schicksalsgemeinschaft der beiden Völker gebe, da Deutschland Europa mit sich in den Untergang gestürzt habe. Da Frankreich nunmehr die Verantwortung für Deutschland trage, werde Deutschland das sein, was Frankreich aus ihm mache - daher der Titel des Artikels: „Das Deutschland von morgen ist der Maßstab unserer Verdienste".
Erste Sitzung des Europarats. Robert Schuman (1886-1963) und Maurice Couve de Murville (1907-1999), Straßburg (Bas-Rhin), August 1949.
© Roger-Viollet
Die Versöhnung erwächst aus dem Wunsch, endlich in Frieden zu leben. Auf beiden Seiten des Rheins hatte man verstanden, dass man sich den Sachzwängen unterwerfen musste, um sie in Innovation umzuwandeln, und es ging zunächst darum, anzuerkennen, dass man gemeinsame Interessen hat - das war der eigentliche Sinn des Projekts der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) des französischen Außenministers Robert Schuman, Der am 9. Mai 1950 vorgelegte Entwurf schlug die Zusammenlegung des damaligen Kriegsmittels Kohle und Stahl vor: „Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland beseitigt wird […]. Die französische Regierung schlägt vor, [...] die gesamte deutsch-französische Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame übergeordnete Autorität zu stellen, und zwar innerhalb einer Organisation, die für die Beteiligung der anderen europäischen Länder zugänglich ist […]. Die Solidarität im Bereich der Produktion, die auf diese Weise zustande kommt, wird verdeutlichen, dass ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern praktisch unmöglich geworden ist".
Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer wird von General de Gaulle bei seiner Ankunft im Elysée-Palast
zur Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrags begrüßt, Paris, 22. Januar 1963. © Roger-Viollet
Die Unterzeichner des deutsch-französischen Kooperations- und Freundschaftsvertrags vom 22. Januar 1963, des sogenannten Élysée-Vertrags, General de Gaulle und Konrad Adenauer, gaben anschließend den nötigen Anstoß, damit die Verantwortlichen in Frankreich und Deutschland die Komplexität ihrer Beziehung zugunsten einer beispielhaften Versöhnung im Dienste des europäischen Aufbaus überwinden konnten. Obwohl nicht frei von Unklarheiten und Missverständnissen, beruht die Verständigung der beiden Staatsoberhäupter auf dem gemeinsamen politischen Willen, zur europäischen Einheit beizutragen. Ihre Nachfolger, wer auch immer sie sein mögen, führen einen ständigen Dialog, der es ermöglicht, alle Widersprüche, die sich aus unterschiedlichen Ansichten und Herangehensweisen an die internationale Lage ergeben, zu bewältigen. Der Élysée-Vertrag, der regelmäßige Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs und Ministern, insbesondere in der Außenpolitik, vorsieht, ist zwar kein Wundermittel, um die Beziehungen zwischen Paris und Bonn/Berlin zu fördern, aber als „versöhnliches" superstrukturelles Element hat er eine Belastung der deutsch-französischen und europäischen Zukunft vermieden. So waren die Beziehungen zwischen der deutschen und der französischen Führung während des deutschen Einigungsprozesses so angespannt, dass nur die seit 1963 eingeführten Gewohnheiten der Zusammenarbeit ernsthaftere Zerwürfnisse verhinderten. Man darf nämlich nicht vergessen, dass aus französischer Sicht die Teilung Deutschlands in Wirklichkeit die Vorbedingung für eine Versöhnung mit dem Nachbarn war. Doch 1990 wurden die traditionellen Parameter der französisch-(west)deutschen Beziehungen durch das Zustandekommen eines vereinigten Deutschlands im Herzen Europas in Frage gestellt. Seit dem Élysée-Vertrag hat sich die Zusammenarbeit stetig vertieft. Anlässlich des 25. Jahrestages seiner Unterzeichnung wurden 1988 der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat sowie der Deutsch-Französische Wirtschafts- und Finanzrat gegründet. 1989 wurde die Deutsch-Französische Brigade ins Leben gerufen, aus der 1993 das Eurokorps entstand. Ein Generalsekretariat für die Zusammenarbeit in jedem Land und die deutsch-französischen Ministerräte, die an die Stelle der deutsch-französischen Gipfeltreffen treten, wurden nach dem 40. Jahrestag des Vertrags im Jahr 2003 eingerichtet. Der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration, der am 22. Januar 2019 in Aachen unterzeichnet wurde, ergänzt den Élysée-Vertrag, indem er in mehreren Bereichen, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch und grenzüberschreitend, vom Willen zur Zusammenarbeit zum Willen der Konvergenz übergeht. Es gibt heute keine vergleichbaren bilateralen Beziehungen zwischen zwei anderen Ländern.
Unterzeichnung des Vertrags von Aachen durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, 22. Januar 2019.
© Présidence de la République
Die Verträge von Élysée und Aachen führten zu einer spezifischen Partnerschaft zwischen den beiden Ländern, wobei diese jedoch durch den Prozess des Aufbaus einer Symbolik der Versöhnung gerechtfertigt wird.
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg als Symbol der deutsch-französischen Versöhnung
Wenn von der deutsch-französischen Aussöhnung die Rede ist, dann macht sie mehr „Sinn" für den Ersten Weltkrieg, weniger für den Zweiten, da Deutschland Frankreich vier Jahre lang besetzt hielt - oder gar für den Deutsch-Französischen Krieg von 1870, dessen Leiden und Folgen mit denen der beiden Weltkriege nicht zu vergleichen sind. Sicherlich kann jeder Krieg für militante Zwecke instrumentalisiert werden. So hat die Unterzeichnung des Vertrags von Aachen im Jahr 2019 gezeigt, wie führende französische Politiker die Erinnerung an 1870 wecken konnten, indem sie den französischen Präsidenten beschuldigten, er habe das Elsass an Deutschland abgetreten, obwohl in dem Vertrag nur von einer Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zum Nutzen der betroffenen Bevölkerung die Rede ist.
Das Gedenken des französischen und des deutschen Volkes ist nicht dasselbe: Im Gegensatz zu Frankreich, das den 11 Novembre zum „Gedenktag des Sieges und des Friedens" erklärt, ignoriert Deutschland dieses Datum in seinem Erinnerungskalender, da es die Erinnerung an seinen Zusammenbruch und die Demütigungen des Versailler Vertrags vom 28. Juni 1919 heraufbeschwört, die 14 Jahre später als Nährboden für die Entstehung des Nationalsozialismus galten. Dennoch ist es der Erste Weltkrieg, an den General de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer erinnerten, als sie am 8. Juli 1962 am Gottesdienst in der Kathedrale von Reims teilnahmen, ebenso wie Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl, als sie sich am 22. September 1984 vor dem Beinhaus von Douaumont, in der Nähe von Verdun an der Hand hielten. Diese Haltung der beiden Staatsoberhäupter Frankreichs und Deutschlands erinnert zum ersten Mal an den Schmerz und die Verluste beider Völker und verwandelt dadurch das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in eine einvernehmliche Erinnerung an eine gemeinsame schlimme Erfahrung.
François Mitterrand und Helmut Kohl gedenken gemeinsam der Schlacht von Verdun, Beinhaus von Douaumont, 22. September 1984. © RDA
Im Schloss von Versailles fand am 22. Januar 2003 die gemeinsame Sitzung der Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrags statt. 84 Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles wurde die Sitzung im Spiegelsaal des Schlosses abgehalten - dort, wo 1871 auch das Deutsche Kaiserreich proklamiert wurde. Am 11. November 2009 entfachten Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Nicolas Sarkozy gemeinsam die Flamme des Grabmals des unbekannten Soldaten des Großen Krieges unter dem Arc de Triomphe – einem herausragenden Ort der französischen Mythologie, der der deutschen Präsenz – einer Premiere – einen besonderen Glanz verlieh. Dies war ein besonderes Ereignis, da ein länderübergreifendes Ritual durchgeführt wurde, bei dem beide Hymnen gespielt wurden und eine Abordnung der deutsch-französischen Brigade sowie Offiziersschüler beider Armeen anwesend waren. Die Rede von Präsident Sarkozy knüpfte zwar an die Tradition der Gesten von Kanzler Kohl und Präsident Mitterrand an, erwähnte aber explizit die Opfer beider Seiten, ohne zwischen den Toten der einen und der anderen Seite zu unterscheiden: „An diesem 11. November [gedenken wir] nicht des Sieges eines Volkes über ein anderes, sondern einer Leidensgeschichte, die für das eine Volk ebenso schrecklich war wie für das andere".
Der Präsident Emmanuel Macron und sein deutscher Amtskollege Frank-Walter Steinmeier reihten sich entschieden in diesen Rahmen ein, als sie am 11. November 2018 gemeinsam das deutsch-französische Historial de la Grande Guerre auf dem Hartmannswillerkopf, in den Vogesen einweihten. Die binationale Dimension ist stärker ausgeprägt als in Verdun, da sich das Historial in einem grenzüberschreitenden Einzugsgebiet mit 8 Millionen Einwohnern befindet - eine Gelegenheit, ein gemeinsames, offenes und europäisches Gedenken an den Konflikt zu schaffen. Am 10. November 2018 schließlich gedachten Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron gemeinsam des Endes des Ersten Weltkriegs auf der Lichtung von Rethondes, im Wald von Compiègne, wo ein Jahrhundert zuvor der Waffenstillstand unterzeichnet worden war. Noch nie zuvor hatte ein Bundeskanzler diesen Ort der Kapitulation besucht. Die beiden Staatsoberhäupter enthüllten dort eine zweisprachige Gedenktafel, die besagt, dass sie „hier den Wert der deutsch-französischen Versöhnung im Dienste Europas und des Friedens bekräftigen".
Nicolas Sarkozy und Angela Merkel schreiten anlässlich der nationalen Zeremonie zum 11. November an deutschen Truppen vorbei,
Paris, Mittwoch, 11. November 2009. © Philippe Wojazer/AFP
Sicherlich müssen Umdenken und Gedenken einen Sinn haben, die Erinnerungsarbeit muss gepflegt werden. Und da die Tinte, die in Verdun verwendet wurde, inzwischen zu trocken war, musste man sich auch gemeinsam mit dem Zweiten Weltkrieg befassen, um dieses komplexe Palimpsest erfolgreich zu gestalten. Es mussten neue Bezugspunkte gesetzt werden, wie z. B. gegenseitiges Verständnis oder die Umwandlung von Orten des Schmerzes in Orte der gemeinsamen Besinnung. Dies gilt auch für die feierliche Erklärung, die Präsident Jacques Chirac in Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6. Juni 2004 in Caen anlässlich des 40. Jahrestags der Landung der Alliierten in der Normandie am Friedensdenkmal vortrug: „An diesem Tag des Gedenkens und der Hoffnung empfangen die Franzosen Sie mehr denn je als Freund. Sie empfangen Sie als Bruder".
Die Mechanismen der Versöhnung zwischen friedensstiftendem Vergessen und dem Blick in die Zukunft
Bis Ende der 1980er Jahre wurde Versöhnung auf beiden Seiten des Rheins als unvereinbar mit der Auseinandersetzung der Erinnerung an den letzten Weltkrieg angesehen. Seit der Zeremonie in Reims 1962 haben sich die deutschen und französischen Staatsoberhäupter auf Gedenkstätten gestützt, die auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg verweisen. Das offizielle deutsch-französische Gedenken bevorzugt daher konsensfähige Orte (Reims, Verdun oder Versailles) gegenüber den historischen Ereignissen, die den Großteil der zeitgenössischen Erinnerungsdebatten inspirieren (Drancy, Auschwitz oder Oradour-sur-Glane). In diesem Sinne beinhaltet die Großgeschichte der deutsch-französischen Versöhnung, wie jede historische Darstellung, aus verschiedenen Gründen ein Stück Vergessen. Einerseits brachte der „außenpolitische" Kontext, der Kalte Krieg, die westeuropäischen Demokratien de facto näher zusammen, mit dem Ziel, der sowjetischen Bedrohung entgegenzuwirken. Andererseits waren gegenseitige Beschuldigungen in Bezug auf Episoden aus dem Zweiten Weltkrieg geeignet, potenziell konstruktive Kontakte zu belasten. Außerdem waren die französischen und deutschen Politiker nach 1963 davon überzeugt, dass die deutsch-französische Annäherung nur dann erfolgreich sein konnte, wenn alles, was sie eventuell hätte gefährden können, um jeden Preis vermieden wird. Diese Sackgasse in Bezug auf die nahe Vergangenheit ermöglichte es, die nicht erfolgte Rückbesinnung beider Länder auf ihre eigene Vergangenheit - Naziverbrechen und Kollaboration - zu vertuschen. Hohe SS-Offiziere in Frankreich während der Besatzungszeit, wie Karl Oberg und Helmut Knochen, wurden daher 1962 auf Befehl von General de Gaulle. freigelassen. Die französische Nachsicht mit ihnen erklärt sich vor dem Hintergrund der Politik der nationalen Versöhnung der aufeinanderfolgenden französischen Regierungen und der Aussöhnung mit Deutschland im Hinblick auf die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags - was einer Absolution gleichkommt. In seiner Rede in Berlin am 8. Mai 1995 anlässlich des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs wagte es Präsident Mitterrand sogar, die Soldaten der Wehrmacht und ihren Mut explizit zu würdigen. Letztendlich geht es weniger darum, die Vergangenheit mit den Notwendigkeiten der Gegenwart in Einklang zu bringen, sondern vielmehr darum, den Fortbestand eines „Vergessens" zu fördern - des erlösenden Vergessens, das, ohne in die Falle der Verdrängung zu tappen, die schmerzhafte Vergangenheit überwindet, ohne sie jedoch auszulöschen. Der Große Krieg dient somit als „positiver" Motor für die Versöhnung, so dass Präsident Valéry Giscard d'Estaing beschloss, nur noch den 11. November als Gedenktag für alle Kriege festzulegen und nicht mehr auch den 8 Mai.
Bereits in den 1980er Jahren akzeptierten die offiziellen deutsch-französischen Kreise jedoch allmählich, sich mit den schmerzhaften Episoden des Zweiten Weltkriegs auseinanderzusetzen - davon zeugen die Prozesse gegen Klaus Barbie 1987 und Paul Touvier 1994, die während der Besatzungszeit Chef der Gestapo in Lyon bzw. Chef der Lyoner Miliz waren. Die Entstehung der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im deutsch-französischen Kontext erklärt sich aus der Entwicklung der beiden Gesellschaften und Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges und in der veränderten Haltung gegenüber ihrer eigenen Geschichte.
In Deutschland wurde die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Mitte der 1980er Jahre mehrheitsfähig, insbesondere durch die berühmte Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag, in der er seinen Landsleuten eine Botschaft zur Versöhnung mit ihrer NS-Vergangenheit mit auf den Weg gab: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung". Nachdem Präsident Mitterrand 1981 den 8. Mai wieder als Feiertag eingeführt hatte, nicht um den Sieg über den Nationalsozialismus zu feiern, sondern um Freiheit und Demokratie zu feiern, sollte die Rede des deutschen Präsidenten dieser Botschaft Nachdruck verleihen und es Bundeskanzler Schröder ermöglichen, im Juni 2004 an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten teilzunehmen. In Frankreich erreichte diese kritische Konfrontation mit der Rede von Präsident Chirac am 16. Juli 1995 bei der Gedenkfeier für die Razzia von Vél d'hiv vom 16. und 17. Juli 1942 einen entscheidenden Höhepunkt, in der er, weit entfernt von der gaullistisch-mitterrandschen Position zu diesem Thema, offiziell die Verantwortung des französischen Staates für die Deportation und den Völkermord an den Juden anerkannte - eine Beteiligung Frankreichs, die von den Präsidenten François Hollande 2012 und Emmanuel Macron 2017 erneut bekräftigt wurde.
François Hollande und Joachim Gauck besuchen gemeinsam Oradour-sur-Glane, an der Seite von Robert Hebras, einem Überlebenden des Massakers, 4. September 2013.
Philippe Wojazer/AFP
Die beiden Länder sind darüber hinaus besser in der Lage, ihre gemeinsame Vergangenheit aufzuarbeiten. Im deutsch-französischen Austausch, auf der Ebene der jeweiligen Zivilgesellschaft oder im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) werden seit Ende der 1990er Jahre Orte und Themen, die direkt mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zusammenhängen, in die Lehrpläne aufgenommen. Die 2003 beschlossene Erstellung eines deutsch-französischen Geschichtsbuchs für deutsche und französische Gymnasiasten ist das ultimative Zeichen der Versöhnung zweier Länder, die auf diese Weise einen deutsch-französischen Blick auf historische Ereignisse fördern wollen, insbesondere auf die tragischen Ereignisse der Kollaboration und des Völkermords an den Juden. Präsident Hollande und sein deutscher Amtskollege Joachim Gauck besuchten am 4. September 2013 gemeinsam Oradour-sur-Glane - wo am 10. Juni 1944 643 Menschen von Soldaten der SS-Division Das Reich massakriert wurden. Diese neue symbolische und für Deutschland reuevolle Geste, diesmal an einer Gedenkstätte des Zweiten Weltkriegs, zeigt, wie sehr die beiden Länder weiterhin auf Versöhnung setzen müssen. Es ist offensichtlich, dass die deutschen und französischen Staatsoberhäupter zeigen müssen, dass sie nicht nur an einem Dialog interessiert sind, sondern auch eine Art Emotion vermitteln, die über die regelmäßigen Treffen, die seit über 50 Jahren stattfinden, hinausgeht.
In den letzten Jahrzehnten haben deutsche und französische Politiker die notwendigen Impulse gesetzt, damit beide Länder die Mechanismen zur Vernetzung der Kooperationsprozesse verbessern, sich die gleichen Ziele setzen und dann auch die gleichen Wege zu deren Erreichung beschreiten können. Es war der Versöhnungsprozess, der es den beiden Ländern ermöglichte, sich einander anzunähern, und der es ihnen heute ermöglicht, sich weiter anzunähern, so dass sie manchmal behaupten, ein „Paar" zu bilden, was die deutsch-französische Partnerschaft sicherlich nicht ist. Aber diese deutsch-französische Annäherung besitzt eine echte Vorbildfunktion und hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, ein Europa des Friedens und des Wohlstands aufzubauen. Auch wenn man sich über einige Grenzen der Großgeschichte der deutsch-französischen Versöhnung wundern mag, muss man auch zugeben, dass sie eine Lektion in Toleranz und Solidarität war und bleibt, die ein Vorbild für andere Konfliktregionen auf der Welt sein kann.