Edgar Faure
Edgar Faure wurde am 18. August 1908 als Sohn eines Militärarztes in Béziers geboren und verbrachte aufgrund dessen Tätigkeit seine Jugend in verschiedenen Orten in Frankreich. Er besuchte die Mittelschulen in Verdun und Narbonne, die Gymnasien Janson in Sailly und Voltaire in Paris und bestand bereits mit 15 Jahren das Abitur. Sein aufgeweckter Geist interessierte sich für praktisch alles. Er studierte Jura und Russisch an der "Ecole des langues orientales", wurde 1929 Rechtsanwalt in Paris und war damit der jüngste Rechtsanwalt Frankreichs. Sein Interesse an der Politik brachte ihn eine Zeit lang mit der "Action française" zusammen, bevor er sich der radikal-sozialistischen Bewegung anschloss. In derselben Zeit schrieb und veröffentlichte er mehrere Kriminalromane unter dem Pseudonym "Edgar Sanday". 1931 heiratete er Lucie Meyer, die mit Raymond Aron die Zeitschrift "La Nef" gründete.
1942 befürchtete er seinen Ausschluss durch das Regime von Vichy und schloss sich Louis Joxe und Pierre Mendès-France in Algier an, wo er die juristische Abteilung des Vorstands des "Comité français de libération nationale" leitete und danach (Juni-Juli 1944) stellvertretender Generalsekretär der provisorischen Regierung in Algier wurde. Bei seiner Rückkehr nach Paris arbeitete er mit Pierre Mendès-France im Wirtschaftsministerium zusammen. Nach dessen Rücktritt übernahm Edgar Faure als Ersatz für Paul Coste-Floret die Funktion des stellvertretenden Delegierten des öffentlichen Ministeriums beim internationalen Militärgericht im Rahmen des Nürnberger Prozesses 1945. Im Oktober 1945 engagierte sich Edgar Faure verstärkyt in seiner politischen Karriere: Er war radikal-sozialistischer Abgeordneter des Departements Jura (1946 -1958), Abgeordneter des Departements Doubs (1967 -1980) und Senator für den Doubs von 1981 bis zu seinem Tod im Jahr 1988, Präsident der Nationalversammlung (1973 -1978), Präsident des Regionalrats der Region Franche-Comté (1974 -1981) und von 1982 bis 1988, Präsident des Generalrats des Departements Jura (1949 - 1967), Bürgermeister von Port-Lesney (Dep. Jura) von 1947 bis 1970 und von 1983 bis 1988, Bürgermeister von Pontarlier von 1971 bis 1977 und Senator des Departements Jura (1959 -1966), Präsident des Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung (Comité d'expansion économique) des Departements Franche-Comté und des Gebiets von Belfort (1951), danach des Ausschusses für wirtschaftliche Entwicklung der Region Franche-Comté (1964 - 1973). Neben seinen Tätigkeiten als Parlamentarier, Schriftsteller und Lehrkörper an der juristischen Fakultät der Universität Dijon übernahm Edgar Faure auch zahlreiche ministerielle Posten: Er war mehrfach Ratspräsident (1952, 1955 - 1956), Finanzminister (1949 - 1951, 1953, 1958), Justizminister (1951), Auslandsminister (1955), Landwirtschaftsminister (1966 - 1968), Bildungsminister (1968 - 1969) und Sozialminister (1972 - 1973). Weiterhin war er Abgeordneter in der Versammlung der Europäischen Gemeinschaft von 1979 bis 1984.
Seine Tätigkeiten in der Regierung lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen: Wirtschaftsreform und Sanierung der öffentlichen Ausgaben, Aufbau der europäischen Einheit und Verstärkung der diplomatischen Stellung Frankreichs sowie die französische Kolonialpolitik in Nordafrika. Auf finanzpolitischem Gebiet war Edgar Faure der Urheber des Vorschlags eines Regierungsbeschlusses, nach dem die "Banque de France" die Möglichkeit haben sollte, Vorschüsse auf Anleihen zu gewähren (15. Januar 1948), sowie der Sanierung der öffentlichen Ausgaben durch Anlehnung des Staatshaushalts 1950 an den Sanierungsplan Mayer. In seiner ersten Legislaturperiode 1952 bildete er eine Regierung, die von der Presse als "Ali Baba und die 40 Räuber" qualifiziert wurde, unter der die verstaatlichten Unternehmen reformiert wurden, ließ er am 28. Februar 1952 über die beweglichen Lohn- und Gehaltsstufen abstimmen, bevor er am nächsten Tag von seinem Amt zurücktrat, weil den Nationalversammlung eine Erhöhung der Steuern ablehnte. Als Finanz- und Wirtschaftsminister in der Laniel-Regierung schlug er am 4. Februar 1954 einen Expansionsplan von achtzehn Monaten vor. In seiner zweiten Legislaturperiode wurden ihm im März 1955 wirtschaftliche Sondervollmachten erteilt, womit er die Möglichkeit hatte, sich gegen die sozialen Einwände der Poujadisten durchzusetzen.
Auf internationalem Gebiet setzte sich Edgar Faure 1952 für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ein und konnte seine Stellung in der Regierung trotz der Feindseligkeit der Nationalversammlung aufgrund seiner Vorstellungen von Frankreich und Europa bewahren. 1954 schloss er das Kapitel des Kriegs in Indochina ab, während er das Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft aufgab. In Messina setzte er sich für die Bildung einer europäischen Atomgemeinschaft (EAG, Euratom) und einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein. In der Zeit des Kalten Kriegs und einer unabhängigen Außenpolitik Frankreichs setzte er sich für die diplomatischen Beziehungen mit der UdSSR und China ein. Er beschäftigte sich in der Zeit, in der er Regierungschef war, auch mit der Nordafrikafrage, bei der die Zwiefältigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person deutlich wurden. Um die Lage in Tunesien 1952 zu beruhigen, verstärkte er die militärische Präsenz Frankreichs im Land, sprach dabei jedoch gleichzeitig von "interner Autonomie", und beauftragte danach den damaligen Staatsminister François Mitterrand damit, einen reformplan vorzulegen, dem gegenüber die Kolonialisten jedoch feindlich eingestellt waren. 1955 löste Edgar Faure den Konflikt in Nordafrika teilweise durch die Schaffung der französisch-tunesischen Verträge im Mai, nach denen Tunesien eine interne Autonomie erhielt und Habib Bourguiba befreit wurde. In demselben Geist bildete er in Marokko nach der Konferenz von Aix-les-Bains einen Thronrat unter dem im November 1955 aus dem Exil zurückkehrenden Mohammed V. Andererseits kam es auch in seiner Legislaturperiode zur Verstärkung des Konflikts in Algerien und dessen Ausartung zum Bürgerkrieg. Die Massaker von Constantine am 21. August 1955 verstärkten die Gegensätze zwischen den Bevölkerungsschichten noch erheblich. Als Reaktion darauf schickte Edgar Faure weitere Truppen nach Algerien und erklärte den Notstand. Der Staatsmann wurde auch aufgrund seiner schriftstellerischen Tätigkeiten geschätzt und am 8. Juni 1978 in die Französische Akademie gewählt, wo er den Platz von André François-Poncet übernahm und am 25. Januar 1979 vom Herzog von Castries eingeweiht wurde. Insbesondere als Vertreter der republikanischen Kultur und Tradition wurde er so in den Kreis der "Unsterblichen" aufgenommen. Unter seinen Werken sind zu nennen: Pascal, le procès des Provinciales (Pascal, der Prozess der Provinzlerinnen, 1931), Le Serpent et la Tortue (Die Schlange und die Schildkröte, 1957), La politique française du pétrole (Die französische Erdölpolitik, 1961), La disgrâce de Turgot (Die Disgrazierung von Turgot, 1961), Pour un nouveau contrat social (Für einen neuen Gesellschaftsvertrag, 1973), La banqueroute de Law (Der Bankrott von Law, 1977), Mémoires (Memoiren, 1983-1984). Mit einem starken Sinn für Geschichte legte er nach dem von der Versammlung der Provisorischen Regierung verabschiedeten Gesetz Nr. 46-936 vom 7. Mai 1946einen Gesetzesentwurf vor (20. April 1948), nach dem der 8. Mai als Feiertag in Erinnerung an den 8. Mai 1945 festgelegt werden sollte, um dem Wunsch der Verbände der Deportierten und Kriegsveteranen nach einer Feier des Kriegsendes zu entsprechen. Als Bildungsminister nach den Ereignissen im Mai 1968 reagierte er auf die Forderungen der Studenten mit einem Gesetz zur Orientierung der höheren Bildung, dem sog. "Faure-Gesetz". Der Text, der im Staatsanzeiger vom 13. November 1968 veröffentlicht wurde, beinhaltet eine stärkere Beteiligung des Staats an den Universitäten.