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Einberufen in den Algerienkrieg

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Autorin: Soraya Laribi

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Corps 1

Einige Monate nach der Unabhängigkeit Indochinas wollen die Mitglieder der Nationalen Befreiuungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) oder Frontisten ein „algerisches Dien Bien Phu“ ausführen und leiten das Blutige Allerheiligen ein. Denn hinter den siebzig Attentaten, die in der Nacht vom 31. Oktober auf 1. November 1954 gleichzeitig ausgeübt werden, stecken die „Ereignisse in Algerien“, denen die französische Regierung durch „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“, zur „Befriedung“ und durch Entsendung einer großen Anzahl an Soldaten des Kontingents schnell ein Ende setzen will. Es sind junge Männer - nach der damals verwendeten Terminologie die sogenannten Franzosen europäischer Abstammung (FSE) oder Franzosen nordafrikanischre Abstamung (FSNA), die in Frankreich oder in der Siedlungskolonie geboren sind - die einberufen werden, um ihre Grundausbildung vor dem Hintergrund zu absolvieren, dass die Frontisten, aber auch die Messalisten, die in der algerischen nationalistischen Bewegung vereint sind, für ihre nationale Befreiung kämpfen, die schließlich am 3. Juli 1962 erreicht und am 5. Juli desselben Jahres gefeiert wird.

Die Probezeit mit einer normalen Dauer von zwölf Monaten (Gesetz Nr. 46-188 vom 14. Februar 1946) bildet den Militärdienst, der später aufgrund der Kluft zwischen den geburtenschwachen Jahrgängen in Frankreich durch einen drastischen Rückgang der Geburtenziffern und den viel stärkeren Jahrgängen in Algerien aufgrund der Mobilisation der FSNA auf achtzehn Monate verlängert wird (Gesetz Nr. 50-1478 vom 30. November 1950). Daher werden die Wehrpflichtigen in Frankreich mit 20 Jahren mobilisiert, während sie in Algerien 21 Jahre sind. Die Verschiebung des Militärdienstes auf einen späteren Zeitpunkt war möglich und es wurden zwei Aufschübe gemäß Artikel 23 des Gesetzes vom 31. März 1928 erlaubt: „der verlängerbare Aufschub“ (bis zum Alter von 23 oder 27 Jahren, je nach Fall) mit einer Dauer von einem Jahr und „der sechsmonatige Aufschub“, der im Interesse der Studien einmal gewährt wurde. Die Einberufenen wurden dennoch über die gesetzliche Dauer ihres Dienstes hinaus zum Militärdienst verpflichtet, der nach der Verabschiedung der „Sondervollmachten“ durch die Nationalversammlung am 12. März 1956 auf siebenundzwanzig Monate ausgeweitet wurde. Diese wurden vom Ratspräsidenten Guy Mollet vorgeschlagen, der sich die Wut der europäischen Bewohner Algiers bei seinem Besuch am 6. Februar („Tag der Tomaten“) zugezogen hatte. Diese Maßnahme war jedoch unzureichend und so wurden zuvor entlassene Wehrpflichtige wieder einberufen.

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Ankunft einer Infanterieeinheit mit Wiedereinberufenen. 17. Juni 1956, Algier. ©Raymond VAROQUI/ECPAD/Verteidigung

 

Zwischen 1956 und 1962 werden daher ca. 400.000 bis 470.000 Einberufene dauerhaft in Algerien stationiert und in den französischen Departemens (oder den „Wilayas“ der Nationalisten) verteilt, die sie großteils zum ersten Mal sehen. Einige werden entsandt, um „die Grenzen abzuriegeln“, insbesondere auf der Morice-Linie im Osten Algeriens, nachdem Tunesien und Marokko 1956 ihre Unabhängigkeit erlangten. Andere Einberufene kommen zu den spezialisierten Verwaltungsabteilungen in die Berge der Kabylei oder die Gegend von Constantine, wo sie Funktionen als Lehrer erfüllen, während einige ihren „zwanzigsten Geburtstag im Aurès-Gebirge“ feiern. Manche haben auch in den Fallschirmjägereinheiten gekämpft und als solches wurden Einberufene zum Beispiel während der Schlacht von Algier (7. Januar - 9. Oktober 1957) mobilisiert, in der Methoden des psychologischen Krieges mit dem System Verhaftung-Inhaftierung und Folter angewandt wurden und viele Nationalisten verschwanden (der symbolträchtigste ist der kommunistische Mathematiker und militante Antikolonialist Maurice Audin). Die Hauptaufgabe jener, die am Plan Challe (6. Februar 1959 - 6. April 1961) im Gebiet von Oran und später jenem von Algier und Ouarsenis teilnahmen, war die Zerschlagung der politische-administrativen Organisation der FLN.

Nach den Verträgen von Évian vom 18. März 1962 werden die Partisanen der Organisation der geheimen Armee (OAS) - die im Februar 1961 von Pierre Lagaillarde und Jean-Jacques Susini in Spanien gegründet worden war und die Selbstbestimmung Algeriens ablehnte - zu den Feinden, die in den stark europäisch geprägten Städten (Algier und Oran) und nicht mehr in den „Fellaghas“ ausgelöscht werden sollen. Die meisten Einberufenen sind den Partisanen des französischen Algerien feindlich gesinnt, wie ihre schweren Zusammenstöße in der Schlacht von Bab el-Oued oder auch die Schießerei in der Rue d‘Isly am 26. März 1962 in Algier beweisen. Die Einberufenen sind vor aber auch während dieser Zeit ebenfalls Opfer von Gewalttaten, werden von Mitgliedern der FLN entführt oder festgenommen. Die mit der Regelung dieser Risse für den Waffenstillstand beauftragten gemischten Kommissionen sind wirkungslos. Ein Teil dieser Einberufenen, der zu den Gefangenen der FLN zählte, wurde vom Roten Kreuz und vom Internationalen Komitee des Rote Kreuzes besucht und sollte gemäß den Waffenstillstandsabkommen freigelassen werden, jedoch wurden viele von ihnen nicht gefunden und kamen zur schmerzlichen Bilanz der menschlichen Verluste in der Kategorie der „Vermissten“ hinzu.

 

Um zu verhindern, dass sich die einberufenen FSE aus Algier und Oran der OAS anschließen, erlässt Verteidigungsminister Pierre Messmer am 17. Mai 1962 eine Verordnung mit dem militärischen Code-Namen „Plan Simoun“, welche die Aufhebung der gewährten Aufschübe und die vorzeitige Einberufung dieser Wehrpflichtigen vorschrieb. Laut dieser Maßnahme, die Teil der vom Hochkommissar der Republik eingeführten „Operation Fochet“ ist, werden sie nach Europa (nach Frankreich oder in die Bundesrepublik Deutschland) geschickt, um dort ihren Militärdienst abzuleisten. Für einige bedeutet es die Gewissheit, nicht nach Algerien zurückzukehren. In dieser Phase des Machtwechsels – der darüberhinaus durch die Spaltung der FLN und den Bruderzwist zwischen Frontisten und Messalisten geprägt ist – wurden andere Einberufene, darunter FSE aus Frankreich, den lokalen Streitkräften zugeteilt, die gegründet worden waren, um die Ordnung nach dem Waffenstillstand vom 19. März aufrechtzuerhalten, aber auch um der Nationalen Befreiungsarmee (ALN), dem bewaffneten Arm der FLN, Konkurrenz zu machen. Die FSNA-Wehrpflichtigen, die von den französischen Behörden verlegt worden waren, werden von den Wilayas angestachelt, mit ihren Waffen zu desertieren, um ihre Vergebung zu erkaufen: sie werden „Marsiens“ genannt.

Auch wenn einige Akte des Widerstands (Verweigerung des Wehrdienstes) oder Ungehorsams (Befehlsverweigerung) beachtlich waren – wie z. B. die Bahnblockade durch die Einberufenen und die 1955 und 1956 zum Wehrdienst verpflichteten Soldaten oder die absichtliche verspätete Rückkehr mehrerer Wehrpflichtiger aus dem Fronturlaub – blieben sie im Allgemeinen schwach, da sie nach dem Militärgesetz bestraft wurden, das im Wesentlichen durch die Gesetze vom 9. und 31. März 1928 festgelegt worden ist.

In den 1950er- und 1960er-Jahren ist die Symbolkraft des Militärdienstes noch groß, auch wenn die Fahnenflucht (Verlassen seiner Einheit mit den Waffen oder Überlaufen zum Feind) vor den Verträgen von Évian doch weniger oft vorkam: Es ist ein Übergangsritus und der Mythos des Widerstands ist für diese jungen Männer, deren Großeltern und Eltern den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatten, immer noch prägnant. Das verhindert die Verdrossenheit der Einberufenen kaum - sie versuchen, ihre Einsamkeit mit verschiedenen Aktivitäten auszugleichen, wie z. B. der Fotografie, wobei einige Ansichten in der Zeitung Le Bled (die vom psychologischen Dienst der französischen Armee verbreitet wurde) abgebildet werden sollten, dem Verfassen von Briefen an ihre Familien oder auch dem Radiohören usw. - und die Hoffnung auf ein Ende des Militärdienstes, anders gesagt, ein freigegebener Soldat zu sein, ist groß.

 

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Junge Einberufene aus dem Elsass in Bordj Seriet und in Tablat. 11. Oktober 1956, Region Algier; Tablat; Serie. ©SAURIN/ECPAD/Verteidigung

 

Trotz der positiven Faktoren wie die schrittweise Reduktion des Militärdienstes, die Repatriierung der FSE-Einberufenen nach Frankreich, aber auch die Rückkehr des achtzehnmonatigen Militärdienstes und die Modernisierungsperspektiven der Armee unterstreicht der vom Generalstab erstellte Bericht über die Moral der Soldaten für das Jahr 1962 die tiefe Verunsicherung der Gemüter. Der massive Aufbruch der FSE aus Algerien (Algerienfranzosen) und die Vernachlässigung der frankreichtreuen FSNA sowie der Hilfskräfte (missbräuchlicherweise „Harkis“ genannt) - die hingemordet, zur Entminung an die Grenzen geschicht oder in der nationalen Volksarmee angeworben wurden - schaffen bei vielen Einberufenen ein Gefühl völliger Desillusion. Viele von ihnen hüllen sich in Schweigen, denn zu den physischen Folgen und der Trauer um getötete oder vermisste Waffenbrüder kommen schwere psychische Schäden.

 

Das Gesetz vom 9. Juli 1965 führt offiziell den sechzehnmonatigen Militärdienst ein. Das Gesetz vom 17. Juni 1966 beinhaltet die Aufhebung: „der Verstöße gegen die Sicherheit des Staates oder im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien.“ Es betrifft den Aufstand gegen die rechtmäßige Regierung und amnestiert die Mitglieder der OAS sowie jene, die gegen diese Organisation kämpften. Darüber hinaus gehört das Gesetz vom 31. Juli 1968 ebenso in diese Logik, indem es alle Urteilssprüche aufhebt, die ausgesprochen wurden. Diese beiden Gesetze rehabilitieren daher nicht nur die Einberufenen, die der OAS in Algerien oder in Frankreich beigetreten sind, sondern auch die Deserteure und Fahnenflüchtigen.

Auf eine Zeit der Amnesie und des Vergessens des „namenlosen Krieges“ folgt „eine Rückkehr des Verdrängten“, die sich insbesondere durch die Veröffentlichung von Augenzeugenberichten ehmaliger Einberufener und von Gesprächen mit Historikern äußert, vor allem in den 2000er-Jahren anlässlich der Debatte über den Einsatz der Folter, aber auch durch die Produktion von Filmen. Aus dem Bedürfnis heraus, Orte des Gesprächs zu haben oder sich in „Trauergemeinschaften“ zu versammeln, treten sie Verbänden bei, wie zum Beispiel der nationalen Veteranenvereinigung für Algerien, Marokko und Tunesien (Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie, Maroc et Tunisie, FNACA), die links eingestuft wird, oder der nationalen Union der Kämpfer in Nordafrika (Union Nationale des Combattants en Afrique du Nord, UNCAFN), die rechts eingestuft wird. Nachdem es gelungen ist, ihren Veteranenstatus 1974 anzuerkennen, haben diejenigen, die man nun „Algerienveteranen“ nennt, vielfältige Forderungen. Die Wahl eines Gedenktages durch den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac für diese 1999 als „Krieg“ anerkannte Zeit spaltet auch diese Verbände, die FNACA und die UNCAFN, die jeweils den 19. März (Datum des Waffenstillstandes) und den 16. Oktober bevorzugen. Schließlich wurde das erste Datum vom französischen Staatspräsidenten, François Hollande, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages zum Ende des Algerienkriegs ausgewählt (Gesetz Nr. 2012-1361 vom 6. Dezember 2012).

 

In den letzten Jahren wurden mehrere Grab- und „Gedenkstätten“ errichtet, um die in den Algerienkrieg Einberufenen zu würdigen, wie zum Beispiel das „Nationaldenkmal für den Algerienkrieg und die Kämpfe in Marokko und Tunesien“ (am 5. Dezember 2002 am Quai Branly eingeweiht) und der Gedenkstein für die Vermissten von Les Abdellys, der 2015 am Friedhof Père-Lachaise errichtet wurde.

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Soraya Laribi, Doktorin der Geschichte (Universität Sorbonne)