Im Umfeld des Abts Blanc : Die Infiltration eines Netzwerks
Dem Abt Blanc, geboren am 21. Juni 1903 in Maillane (Bouches-du-Rhône), ehemaliger Kaplan von Sourges im Vaucluse und Capelette in Marseille, gelingt es Anfang 1943 eine kleine Gruppe von Widerstandskämpfern zusammenzubringen. Die Dokumente der Nachrichtendienste über die Affäre Blanc geben einen äußerst präzisen Überblick über die Methoden der Infiltration, der Befragung und schließlich der Unterdrückung des Widerstands.
Abt Blanc organisiert im speziellen Grenzübertritte nach Spanien. Nachdem er im März 1943 denunziert wurde, flüchtet er aus Marseille und kehrt dann Ende April in sein Haus, 10 cours Julien, im Stadtzentrum zurück.
Félix und Jean Lambert: Die Infiltration des Netzwerks
Am Morgen des 18. August 1943 empfängt er einen Besucher, der sich als Félix vorstellt, und per Fallschirm in Frankreich abgesetzt wurde, mit dem Ziel, den Widerstand zu organisieren. Abt Blanc, äußerst zufrieden, dass es ihm gelungen war, Kontakt mit Algier und den Diensten von General Giraud herzustellen, erwägt die Möglichkeit, sein Netzwerk nach Spanien zu verlegen. Hierzu zählen 50 Männer und ein paar Waffen sowie die Möglichkeit, weitere Güter zu beschaffen. Aber es mangelt an den notwendigen Geldern. Félix kündigt im richtigen Moment das Eintreffen seines Stellvertreters, Jean Lambert, an, der ”die finanzielle Frage klären wird”.
Letzterer trifft am Nachmittag des 19. August beim Abt ein. Zwischen 20. und 27. August kommt es zu nahezu täglichen Besuchen der beiden Männer in der 10 cours Julien. Sie verhandeln den Kauf einiger Waffen sowie falscher Ausweispapiere, die sie bar bezahlen. Abt Blanc seinerseits präzisiert seine Kontakte und Projekte. Die beiden Gesandten aus Algier berufen sich auf einen ”Hauptmann Bruneteau”, der ebenfalls in Frankreich abgesetzt wurde, jedoch stets ein Mysterium bleibt.
Tatsächlich ist es aber so, dass die Pseudo-Gesandten von General Giraud aus Algier von den Nachrichtendiensten Deutschlands geschickt wurden. Laut ihren nach der Befreiung abgegebenen Erklärungen, nutzten sie das Adressbuch und die Kennworte von Bruneteau (auch bekannt als Boretto oder Bonetto), der Ende Juni 1943 verhaftet wurde. Laut dem historischen Lexikon Les réseaux de résistance de la France combattante handelte es sich in Wahrheit um Oberstleutnant Émile Bonotaux, der aus Algier gesandt und am 23./24. Juni 1943 auf dem Gebiet von Bronchite, in der Nähe von Amboise, abgesetzt wurde. Er wurde bereits am nächsten Vormittag verhaftet und hatte ein Adressbuch bei sich, das von der SD sorgfältig ausgewertet wurde.
Félix ist Agent 133, mit richtigem Namen Léon Charles Brown, und Jean Lambert, hinter dem sich Jean Jalabert, Agent 129 verbirgt. Nach jedem Zusammentreffen verfassen die beiden Berichte, die mit Charles et Jean unterzeichnet waren, mit Angabe ihrer Identifikationsnummer (siehe Tonbildschau). Weitere Quellen trugen dazu bei, Licht in diesen Fall zu bringen, insbesondere die Befragung von Mitgliedern der SIPO-SD sowie ihren französischen Hilfskräften, während ihres Prozesses vor dem Gerichtshof in Marseille. Die Operation wird ausgeführt von einem Sonderkommando-AS, unter der Leitung von Herbert Werth, der in Verbindung steht mit Ernst Dunker-Delage der ”Gestapo”.
27. August 1943, die Razzia
Ihr Ziel war es, die Zahl der Verhaftungen möglichst großflächig zu erhöhen. Es ist unbestreitbar, dass diese beiden Agenten auf der Suche sind nach den Anführern des Widerstands, denen sie unvorsichtigerweise von Louis Blanc vorgestellt wurden. Auf selbe Weise trifft Jean am 24. August in der Bar Chez vous einen gewissen Jeannot, rue Châteauredon, wo er den Austausch falscher Papiere organisiert. Bereits am nächsten Morgen nimmt er im Büro der Messagerie maritime zunächst Kontakt auf mit Ferdinand Sasso und anschließend mit Marcel Vigne, Sozialist und Bataillonchef der Geheimarmee (AS).
Schlussendlich beschließen die deutschen Nachrichtendienste, während einer vom Abt in seinem Haus organisierten Versammlung eine Razzia durchzuführen. Ihr Eingreifen an diesem Abend ist rundum inszeniert. Ein neuer Agent, bekannt als Marcel und aus Algier eingetroffen, wird vorgestellt. Es handelt sich um Marcel Pavia, Arnaud, 38 Jahre alt, ehemaliger Verantwortlicher der Parti populaire français (PPF) in Tunesien und später in Paris, Mitglied des Sonderkommando-AS. Vor ungefähr 20 Personen gibt Marcel Informationen über eine kurz bevorstehende Landung preis. Charles demonstriert die Funktionsweise einer Maschinenpistole, bis plötzlich Dunker-Delage mit Antoine (Antoine Tortora, Agent 101) hereinplatzt und die Anwesenden nicht von ihrem Handeln abhält. Die Treibjagd geht in der Nacht weiter. Unter den Personen, die zum Sitz der SIPO-SD, 425 rue Paradis gebracht werden, finden sich Verantwortliche für den Grenzübertritt nach Spanien, Anführer der AS, Studenten, die die Überwachung der Versammlung sicherstellten, die beiden jungen Frauen, die bei Abt Blanc wohnten sowie der Sohn einer dieser Frauen. Viele werden unter Anwendung brutaler Methoden befragt, andere werden bis 30. August inhaftiert. Die Anzahl der zur Befragung vorläufig inhaftierten Personen erstreckt sich auf 32 Personen, unter ihnen ein weiterer Abt und ein Verantwortlicher der Franc-Tireur.
Abt Blanc, verlegt ins Gefängnis Saint-Pierre, und später in die Festung Saint-Nicolas, wird in Compiègne interniert und dann nach Buchenwald und später nach Flossenburg deportiert, von wo er wieder zurückkehrt. Er stirbt 1989 in Aureille (Bouches-du-Rhône). Die meisten Mitglieder des Netzwerks, wie die Studenten des Lycée Thiers oder Pierre Mouren wurden Opfer der Deportation und viele fanden unter diesen Umständen den Tod. Jacques Pillé hat überlebt und erzählte von seinen Erlebnissen.
Die Archive des BCRA zeigen eine detaillierte Chronologie über die Infiltration des Netzwerks und die Arbeit der deutschen Nachrichtendienste. Sie zeigen wie es der ”Gestapo” gelungen ist, effizient und voller List ihr Werk auszuführen. Nüchtern betrachtet, reflektieren die Aufzeichnungen die spezielle Vision der französischen Agenten im Dienste der Besatzungsmacht gegenüber einer Widerstandsbewegung. Diese Archive müssen selbstverständlich kritisch analysiert und mit anderen Quellen verglichen werden.
Robert Mencherini
Honorarprofessor an einer renommierten Universität für zeitgenössische Geschichte,
Forscher an der UMR TELEMME,
Mitglied des wissenschaftlichen und administrativen Rats der Gedenkstätte von Milles,
Präsident des Musée de la Résistance en ligne Provence-Alpes-Côte d'Azur (MUREL)
WEITERE INFORMATIONEN
Die Akte über Abt Blanc ist Teil einer Gesamtheit von Archiven der SIPO-SSD in Marseille, zusammengestellt nach Kriegsende von der Behörde für Dokumentation der 14. Militärregion. Diese Archive sind unterteilt in die Unterserie GR 28 P 6.