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Serge Berstein

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Serge Berstein ist ehemaliger Professor am IEP de Paris (Pariser Institut für politische Studien). Als Experte der zeitgenössischen französischen Politikgeschichte wirft er einen Blick auf die Natur des Vichy-Regimes und erklärt uns die politischen und institutionellen Entscheidungen, vor die die Franzosen in Folge der Befreiung gestellt sind.

Texte

Muss das Vichy-Regime als faschistisch angesehen werden? Was sind seine intellektuellen und politischen Wurzeln?

Zu Beginn ist das Vichy-Regime ein Sammelbecken für alle, die das Verschwinden der Republik, des parlamentarischen Regierungssystems, der Freiheitsrechte zu Gunsten eines reaktionären, autoritären, korporatistischen und nationalistischen Regimes akzeptieren, welches die Juden und die Einwanderer ausschließt und die Freimaurer verfolgt. Man findet dort Personen aller politischen Strömungen der Rechten, und, in geringerem Ausmaß, auch der Linken. Zunächst ist das Regime eindeutig in der rechtsextremistischen Linie von Maurras verankert, die seine Ideologie der „nationalen Revolution“ inspiriert. Erst ab 1943, unter Einfluss von Joseph Darnand und seiner Miliz, nimmt das Regime zunehmend faschistische Züge an, die in den früheren Phasen eines autoritären Regimes, das jegliche Werte einer liberalen Republik ablehnt, zwar bereits vorhanden, aber nicht dominierend waren.

Gegenstand und Mittel der Geschichte, kann das Gedenken die historische Genauigkeit garantieren?

Man darf Gedenken und Geschichte nicht verwechseln, und in gewisser Hinsicht besteht ein gewisser Widerspruch zwischen beiden. Je weiter ein historisches Ereignis zurückliegt, umso mehr verschwindet die Realität, in deren Rahmen es stattgefunden hat, um nur eine verblassende Spur zu lassen, die oft instrumentalisiert und zu einem weittragenden Modell hochstilisiert wird (im positiven oder negativen Sinn), welches umso leichter von der öffentlichen Meinung akzeptiert wird, je mehr sie den Zusammenhang ignoriert oder vergessen hat. Für sich betrachtet, kann das Studium des Gedenkens von historischem Interesse sein, aber es kann natürlich nicht die Arbeit der Historiker ersetzen, die, ausgehend von zahlreichen Quellen, versucht, die Genauigkeit der Ereignisse, aber auch der Epoche, in der sie stattgefunden haben zu rekonstruieren, ohne dabei alle Aspekte des zeitlichen Abstands zu vergessen.

Zahlreiche Polemiken bewegen regelmäßig die Forscherkreise und im weiteren Umfeld die französische Gesellschaft sobald die Sprache auf den Zweiten Weltkrieg und die Besatzung kommt (französische Wurzeln des Faschismus, Rolle Vichys in der Endlösung, Kontroverse um die Schlacht Glières, um nur einige Beispiele zu nennen…). Was halten Sie von diesen Debatten?

Diese Debatten sind nützlich, wenn sie Deutungen zerstreuen, die von politischen, philosophischen und ideologischen Meinungen inspiriert sind anstatt von einer historischen Analyse, die auf den strengen kritischen Methoden beruht, die ich zuvor erwähnt habe. Aber die Forschungsbereiche, die Sie erwähnen sind genau jene, in denen der wissenschaftliche Zugang zur Geschichte häufig von drei grundsätzlichen Fehlern unterlaufen wird, die zu einer fälschlichen Betrachtung der Geschichte führen: a priori gefällte Werturteile, rückwirkender Determinismus oder schlicht und einfach Anachronismus. Es kann keinen erfolgreichen Dialog geben, wenn keine auf der Analyse der Originalquellen basierenden Argumente ausgetauscht werden, die sich auf den Zusammenhang der Epoche beziehen und das Verhalten der Menschen nicht in Anbetracht ihrer Vergangenheit und noch weniger in Anbetracht ihrer Zukunft, sondern zum betroffenen Zeitpunkt betrachten.

Nach dem Fall des Vichy-Regimes stellt sich die Frage nach dem politischen Wiederaufbau des Landes. Welche Wahl hat die französische Bevölkerung?

Das befreite Frankreich befindet sich in den Jahren 1944-1945 in einem juristischen und politischen Vakuum. Von der provisorischen Regierung von General de Gaulle verwaltet, hat Frankreich keine Verfassung mehr, da jene der 3. Republik am 10 Juli 1940 von der Nationalversammlung aufgehoben worden war. Vor diesem Hintergrund schlägt General de Gaulle den Franzosen am 21. Oktober 1945 vor, in einer Volksbefragung abzustimmen, ob sie die Verfassung der 3. Republik beibehalten oder abschaffen wollen, um in letzterem Fall eine Organisation der öffentlichen Behörden während eines Zeitraums einzusetzen, in dem eine etwaige gesetzgebende Versammlung eine neue Verfassung ausarbeitet. Wenngleich sich die Franzosen zu 96% für eine Änderung der Institutionen aussprechen, wünschen nur 66% die von General de Gaulle vorgeschlagene Organisation der öffentlichen Behörden, die den Wirkungszeitraum der gesetzgebenden Versammlung einschränkt.

Am 21. Oktober 1945 wählt Frankreich eine neue gesetzgebende Verfassung. Welche politischen Kräfte bestehen zu diesem Zeitpunkt? Welche Mehrheit zeichnet sich ab?

Gleichzeitig mit der Volksbefragung finden am 21. Oktober 1945 Parlamentswahlen statt. Jedoch markieren die Wahlen, an denen die Frauen zum ersten Mal teilnehmen dürfen, den Zusammenbruch der Regierungsparteien der 3. Republik. Hingegen gehen fast drei Viertel der Wählerstimmen an drei Parteien, die eine wichtige Rolle im Widerstand gespielt haben, die Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei SFIO und das aus Christdemokraten bestehende Mouvement Républicain Populaire (MRP). Zum ersten Mal in der politischen Geschichte Frankreichs erhalten die beiden marxistischen Parteien, Kommunisten und Sozialisten, die absolute Mehrheit der Sitze (302 von 586 Abgeordneten).

Wann hat der Gaullismus aufgehört einfach ein Synonym für den „Widerstand“ zu sein, um ein Projekt und eine politische Bewegung zu werden?

Erst am 7. April 1947 entsteht der wirkliche, politische Gaullismus nachdem der General de Gaulle die Gründung einer Bewegung, des Rassemblement du peuple français (RPF) ankündigt, dessen Grundprogramm auf einer Revision der Institutionen der 4. Republik beruht. Der General hatte selbige in seiner Rede von Epinal am 22. September 1946 vehement verworfen, mit der Begründung, dass die meiste Macht in der Nationalversammlung fallen würde. In seiner Rede vom 16. Juni 1946 in Bayeux schlägt er im Gegenzug ein politisches Projekt vor, das das Parlament auf seine legislativen Aufgaben beschränkt und den Präsidenten zum Schlüsselelement aller Institutionen macht.

Was ist der Gaullismus?

Er ist schwer zu definieren, da er nicht wirklich eine politische Theorie darstellt und da andererseits seine Geschichte aus Episoden besteht, deren Kontinuität nicht immer offensichtlich ist. Zwischen dem Gaullismus des Widerstands während der Kriegsjahre, dem der Opposition unter der Vierten Republik, dem Gaullismus an der Macht während der Jahre, in denen der General das Schicksal des Landes bestimmt, und selbst dem Post-Gaullismus, auf den sich seine selbsternannten Erben nach 1969 berufen, stellt man mehr als nur geringe Unterschiede fest. Wenn man sich jedoch nur an die Jahre hält, in denen der General eine historische Rolle gespielt hat, so scheint es, dass man, um den Gaullismus zu definieren, zwei dauerhafte grundlegende Merkmale unterscheiden kann. Der Wille, die Größe Frankreichs aufrecht zu erhalten und zu sichern und, um zu diesem Resultat zu gelangen, die Notwendigkeit, einen starken Staat zu gründen, der fähig ist, die nötigen Initiativen zu ergreifen, um diese Größe zu untermauern. Abgesehen von diesen beiden wichtigen Voraussetzungen basieren alle anderen Aspekte der verfolgten Politik auf Pragmatismus, ihre Annahme oder Ablehnung ist einzig eine Frage, ob sie dem zugrunde liegenden Ziel dienen oder nicht. Der Gaullismus ist also interventionistisch und dann liberal was die Wirtschaft betrifft, der Integrität des Reiches und dann der Entkolonialisierung verschrieben, Verbündeter der Vereinigten Staaten und entschlossen, ihre Vormundschaft abzuschütteln ... Diese grundlegenden Merkmale des Gaullismus verankern ihn natürlich in der Genealogie des französischen Nationalismus, aber eines Nationalismus, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unumstritten war, der die demokratischen und republikanischen Prinzipien akzeptierte und gegen die Exzesse und die Bereitschaft zum Ausschluss der Maurras-Anhänger des integralen Nationalismus war.

Am 20. Januar 1946 tritt General de Gaulle von seinem Posten als Regierungschef zurück. Was erwartet er von dieser Krise und was sind die Gründe dafür?

Auf die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung am 21. Oktober 1945 folgt eine Periode, die von den Spannungen zwischen de Gaulle und den wichtigsten politischen Parteien, die die Versammlung dominieren, geprägt ist. Während des Krieges und nach der Befreiung hat de Gaulle ohne jegliche Kontrolle die verschiedenen Regierungsorgane des freien und anschließend des kämpfenden Frankreichs und danach die Übergangsregierung der französischen Republik gesteuert, all dies im Namen der Legitimität, die ihm seine historische Rolle und sein Charisma verleihen. Jedoch sieht er sich nunmehr mit Abgeordneten konfrontiert, die gewählt wurden und Anspruch auf die demokratische Legitimität erheben können, die ihnen ihr Status als Vertreter des Volkes zuerkennt. Nur mit Ungeduld erträgt der General verschiedene Episoden, während derer die Abgeordneten seine Entscheidungen kritisieren und ihm ihre Ansichten aufzwingen wollen. Am 21. Dezember 1945 gibt er, am Ende seiner Geduld, zu verstehen, dass er sein Amt zurücklegt, falls die Abgeordneten weiterhin die Gesetze diktieren wollen. Darüber hinaus ist er sehr verärgert, da die Mitglieder des Verfassungsausschusses ihn vorsorglich von ihren Diskussionen ausschließen. Als er den Sprecher der Kommission, das Mitglied des MRP François de Menthon dazu auffordert, einen Bericht über den Fortschritt der Arbeiten vorzulegen, wird seine Anfrage abgewiesen, mit der Begründung, dass er als Nicht-Abgeordneter keinen Anspruch auf Informationen habe. Auch soll sein Rücktritt am 20. Januar 1946 dazu dienen, eine Krise auszulösen, indem er die Öffentlichkeit über seine Meinungsverschiedenheiten mit den Abgeordneten informiert. Er ist der Überzeugung, dass die Reaktion der französischen Bevölkerung die Abgeordneten dazu zwingt, ihn zurückzuholen und er somit seine Ansichten bezüglich der Verfassung durchsetzen kann. Dem ist jedoch nicht so. Die Öffentlichkeit nimmt seinen Rücktritt gelassen hin. Nach einigen Tagen begibt sich de Gaulle nach Colombey. Sein Bruch mit der 4. Republik ist nunmehr endgültig.

Der 13. Oktober 1946 signalisiert den Beginn der Vierten Republik. Wie sieht die neue Verteilung der Staatsgewalten aus? Welche neuen Institutionen entstehen?

Die am 13. Oktober 1946 per Volksabstimmung angenommene Verfassung ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den drei wichtigsten Parteien der verfassungsgebenden Versammlung. Alle drei sind sich einig in dem Wunsch nach einem politischen System, das auf der Vorherrschaft des Parlaments beruht, was den demokratischen Charakter der Institutionen zu sichern scheint.

Auch wenn die für fünf Jahre gewählte Nationalversammlung nicht die einzige Kammer darstellt, die sich die Sozialisten und Kommunisten gewünscht hätten, so ist sie doch der bevorzugte Verwahrer des allgemeinen Wahlrechts. Sie bestimmt allein über ihre Tagesordnung und die Dauer der Sitzungen, sie stimmt alleine über Gesetze ab und kann diese Befugnis nicht delegieren, sie stellt die Regierung und kann sie auch auflösen. Angesichts dieser Übermacht der Nationalversammlung schneiden die beiden vom MRP eingeführten Gegengewichte schlecht ab.

Der Conseil de la République, der durch ein komplexes System bestehend aus der Ernennung durch die Gruppen der Nationalversammlung und einer Wahl zweiten Grades durch die Wahlmänner erstellt wird, kann im Grunde genommen nur Ratschläge einreichen, denen die Nationalversammlung in keiner Weise zu folgen hat. Insgesamt sind seine Befugnisse so gering, dass man von einem Einkammerparlament sprechen kann. Der Präsident der Republik, der vom Kongress, der beide Kammern vereint, auf sieben Jahre gewählt wird, hat nur sehr eingeschränkte Befugnisse. Jedoch verleihen ihm die Dauer seines Mandats, seine Kenntnis der Dossiers, sein exklusives Recht, den Präsidenten des Conseils zu bestimmen einen gewissen Handlungsspielraum in einem politischen System, in dem keine der Parteien eine absolute Mehrheit besitzt und es keinen eindeutigen Führer einer Koalitionsmehrheit gibt.

Es bleibt die Tatsache, dass im Bereich der Regierung die Nationalversammlung die einzige entscheidende Kraft der 4. Republik darstellt. Auch wenn die verfassungsgebenden Versammlung gewisse Vorkehrungen getroffen hatte, um der Regierung eine reelle Macht gegenüber der Nationalversammlung zu geben, so werden diese Bemühungen durch die Rückkehr zu den Praktiken der 3. Republik zunichte gemacht. In Wirklichkeit ist es die Nationalversammlung, die die Regierung bestätigt, die vom Präsidenten des Conseils gebildet wird, welcher vom Staatschef ernannt wird. Während der gesamten Dauer ihres Bestehens ist die Regierung der permanenten Kontrolle durch die Nationalversammlung ausgesetzt, welche sie jederzeit absetzen kann, entweder durch Abstimmung eines Misstrauensantrags oder indem sie ihr das Vertrauen verweigert. Hingegen ist die Regierung gegenüber der Nationalversammlung so gut wie machtlos, da, auch wenn die Auflösung letzterer vorgesehen ist, diese derartig strengen Regeln unterworfen ist, dass eine Umsetzung unwahrscheinlich erscheint (unter der 4. Republik gab es eine Auflösung, die am 2. Dezember 1955 durch die Regierung unter Edgar Faure beschlossen wurde. Die dazu nötigen Konditionen, die übrigens 1954 vereinfacht worden waren, traten eher zufällig ein). Zusammenfassend kann man sagen, dass die 4. Republik ein Einkammersystem zu Gunsten einer beinahe allmächtigen Nationalversammlung einführt.

Trotz einer gewissen Instabilität der Regierung kann man sagen, dass der Wiederaufbau des Landes der 4. Republik zu verdanken ist, ebenso wie zahlreiche soziale Fortschritte. Was sind die wichtigsten Etappen? Wie sieht die Bilanz der 4. Republik aus?

Man muss von der sehr düsteren Bilanz Abstand nehmen, die die 5. Republik ihrer Vorgängerin anlastet. Ohne Zweifel hat die doppelte Opposition gegen das Regime der Kommunisten und Gaullisten seine Befürworter dazu gezwungen, Verbindungen einzugehen, die zum Immobilismus und zur Machtlosigkeit aufgrund der gegenseitigen Standpunkte der Protagonisten führten. Aber dies hat weder den Beginn der Dekolonisation (auch wenn mit Leid verbunden), noch die Gründungsakte eines vereinten Europas oder den Beitritt Frankreichs zur NATO verhindert. Der 4. Republik ist es Dank des Handelns des Staates gelungen, die französische Wirtschaft durch Nationalisierungen, Planung und Orientierung der Investitionen in Richtung der Schlüsselsektoren aufzurichten. Dennoch sind ihre sozialen Schritte bemerkenswert, insbesondere die Einführung der Sozialversicherung, die, auf dem Prinzip der nationalen Solidarität beruhend, jedem eine Absicherung gegen die Widrigkeiten des Lebens garantiert.


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Le monde entre guerre et paix, 1945-1973, tome 2, coll. Initial Hatier, 1995.

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