Vermittlung der Erinnerungen an Jugendliche
Gespräch mit Marie-Eve VAILLANCOURT
Mit 19 Jahren begann Marie-Eve im Bildungswesen des kanadischen Kriegsmuseums und des kanadischen Geschichtsmuseums als Vermittlerin für Schulklassen sowohl im Bereich der Konzeption als auch der Durchführung pädagogischer Programme zu arbeiten. Dann kamen Organisationsschulungen für diese Programme hinzu, was sie veranlasste zu hinterfragen, was die Schlüssel zu einem effizienten und kohärenten Programm sind. Anschließend studierte sie kanadische Geschichte mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte Kanadas im 20. Jahrhundert. Nach einer Studienreise zu den kanadischen Schlachtfeldern in Frankreich und Belgien im Jahr 2001 wird die taktische und operative Geschichte zu einer Leidenschaft für sie. Nach ihrer Heimkehr mit der Erfahrung eines Treffens mit einem Veteranen der Schlacht der Normandie im Gepäck, erkannte sie die Notwendigkeit, die Geschichte und Erinnerungen als Form der Anerkennung gegenüber den Veteranen zu vermitteln. Zwischen 2011 und 2017 konnte sie als Verantwortliche des Historischen Dienstes am Zentrum Juno Beach die Erwartungen und das Verhalten verschiedener Zielgruppen beobachten, um besser zu verstehen, wie Geschichte und Erinnerungen vermittelt werden können. Bei der Planung von temporären Ausstellungen und deren Programmen (digitalen Apps) für Familien und Schüler legte Marie-Eve Wert darauf, die Programme unter Jugendlichen zu testen, um deren Meinungen und Empfindungen zu sammeln, vor allem in den Ausstellungen „Mama, wie war das im Krieg: das Leben der Bewohner der Normandie und der Kanadier von der Besatzung bis zur Befreiung“ und „Von Vimy bis Juno: Gedenken an die Kanadier in Frankreich“. Außerdem fördert sie die Erarbeitung pädagogischer Programme parallel zu jenen der Ausstellungen und nicht in deren Vorfeld, um das Programm mit der Szenografie zu vermischen und das pädagogische Programm sowie die Ausstellung Hand in Hand weiterzuentwickeln. Um in den Augen der Öffentlichkeit relevant zu bleiben, müssen sich die geschichtlichen Museen mehr nach den Jugendlichen richten und Programme ausarbeiten, die den heutigen Erwartungen des Publikums entsprechen.
HERAUSFORDERUNG DER VERMITTLUNG VON ERINNERUNGEN AN JUGENDLICHE
Für Marie-Eve ist es wichtig zu analysieren, wie sich der Begriff der Erinnerung im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Ihrer Ansicht nach ist es insbesondere in Bezug auf die beiden Weltkriege eine der größten Herausforderungen, gegen die Gleichgültigkeit und das „Fehlen von Erinnerungen“ durch das Verschwinden der letzten Zeugen dieser Konflikte anzukämpfen. Denn oft lassen sich durch Zeitzeugen und ihre Erlebnisse Antworten auf Fragen der Vermittlung finden, jedoch birgt diese starke Abhängigkeit manchmal auch gewisse Schwächen. Wir müssen heute andere Möglichkeiten finden, um die Geschichte zu erfassen und sie Jugendlichen zugänglich zu machen. Für Marie-Eve ist es entscheidend, den Jugendlichen Lust auf Lernen zu machen und nicht alle pädagogischen Ansätze unbedingt linear und chronologisch zu verankern (wie es oft in den Militärmuseen der Fall ist), sondern sie mit einer pluralistischen Geschichte und deren Inkohärenzen sowie Diskussionsmöglichkeiten zu konfrontieren, um einen kritischen und analytischen Geist in der Jugend zu wecken. Ohne Beteiligung besteht die Gefahr des Desinteresses. Daher ist es essentiell, eine neue Pädagogik einzuführen - insbesondere die „differenzierte“ Pädagogik - die den Jugendlichen ermöglicht, die Komplexität der Geschichte zu erfassen, sie zu erörtern und entsprechend ihres Verständnisses und ihrer Kenntnisse zu diskutieren. Außerdem hält sie es für wichtig, die Geschichte der Konflikte und das Alltagsleben selbst sprechen zu lassen, indem man die Jugendlichen ermuntert, zum Beispiel Personen in ihrem Umfeld zu befragen und in ihrer persönlichen Geschichte zu forschen; anders gesagt sollen sie die Erlebnisse hinterfragen, um der Vergangenheit ein reales, konkretes und greifbares Gesicht zu geben und dieses mit der Gegenwart zu verbinden.
Daher bestehe die Herausforderung auch darin, die Mittel zu finden, um Widersprüche unaufgeregt zu präsentieren, um die Diskussion zu eröffnen und die verschiedenen Aspekte der Geschichte zu durchforsten sowie den Jugendlichen deren Komplexität zu präsentieren. So sollen sie ermutigt werden, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden.
ZUSAMMENARBEIT MIT DEM ZENTRUM JUNO BEACH
Marie-Eve ist seit ihrem Weggang vom Zentrum Juno Beach als freiberufliche Beraterin im Rahmen der Schaffung seiner Ausstellungen und pädagogischen Programme tätig. Sie arbeitet derzeit an 2 Ausstellungsprojekten.
KOMMENDE PROJEKTE
- Erneuerung des Rundgang für das junge Publikum der Dauerausstellungen und Schaffung von drei neuen digitalen Apps in Verbindung mit der neuen Szenografie, die den Jugendlichen zur Verfügung steht und mehr spielerische Elemente enthält (durch technische Handlungen, Fragen, Vergleiche mit der Welt von heute).
- Aktualisierung des Raumes „Zeitgenössisches Kanada“, der seit seiner Schaffung im Jahr 2003 nicht verändert wurde und daher an die aktuellen Entwicklungen angepasst werden muss.
- Ausstellung über 12 kanadische und europäische Frauen während des Zweiten Weltkriegs, die gemeinsam mit dem Kanadischen Kriegsmuseum realisiert wurde, um ihre vielfältigen Erlebnisse und ihre Selbstlosigkeit zu präsentieren sowie die Verbindung zwischen Kanada und Frankreich zu zeigen, welche durch die am Ende des Krieges aus der Heimat vertriebenen französischen „Kriegsfrauen“ geschaffen wurde („Große Frauen von 1939-1945“ in der Überlegungsphase)
Zentrum Juno Beach
Blick auf den Strand ‚Nan White‘, Landung des 9. Infanteriebataillons der Brigade LCI(L)
299 am D-Day. (© G. Milne / Library and Archives Canada / PA-137013).
Infanteriebataillon des Régiment de la Chaudière, das sich auf einen Universal Carrier in verschanzter Stellung
am Strand der Normandie ausruht, im Juni 1944. (©Lieut. Ken Bell / Canadian Department
of National Defense / Library and Archives Canada / PA-140849)