Lehre von der Geschichte des Krieges, Lehre vom Krieg in der Geschichte, Lehre vom Krieg in der Gegenwart
Wenn Yves Lacoste schreibt, dass „Die Geografie vor allem dem Kriegführen dient“, erinnert er an den Einsatz der Geografie durch die Akteure des Krieges[1]. Der Krieg ist vor fast dreißig Jahren in unsere unmittelbare Umgebung zurückgekehrt, unabhängig von der Form, die er annimmt. Die Geschichte wird in einem kriegerischen, militärischen und tragischen Alltag geschrieben und hilft uns heute, sie zu verstehen, verständlich zu machen und zu lehren. Sie soll nicht zu einem eigenen historischen Gegenstand gemacht werden, sondern es geht darum, die damit zusammenhängenden Probleme aufzuzeigen und in die Fragen einzubinden, die in der Geschichte, in der Gegenwart und in ihrem jeweiligen Zustand gestellt wurden[2].
1. Geschichte des Krieges, Geschichte des Staates
Zu den schwierigsten Fragen, die man sich zuerst stellt, gibt es drei mögliche Zugänge, wenn man sie nach Themen unterscheidet oder sie zueinander in Beziehung setzt: die Geschichte des Krieges ist mit der Geschichte des Staates verknüpft; der Krieg ist Teil der Geschichte der Beziehungen zwischen den Staaten; der Krieg kann als wiederholte Geschichte der Konfliktformen verstanden werden.
1.1 Die Geschichte des Krieges lässt sich mit den Augen und als Spiegelbild der Geschichte des Staates, seiner institutionellen Erscheinungsformen (Stadtstaat, Republik, Imperium...) und der militärischen Organisation in Verbindung mit seiner politischen Ordnung lesen. Unter diesem Gesichtspunkt ist zum Beispiel die Militärgeschichte in Frankreich und England mindestens seit dem 14. Jahrhundert direkt mit der Geschichte der Nation verbunden.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Institution einer bewaffneten Kraft mit dieser Geschichte verknüpft ist und dass den Krieg zu verstehen vor allem heißt, die (menschlichen, finanziellen, materiellen, administrativen...) Mittel zu kennen, mit denen sich eine Macht ausstattet, um sich zu verteidigen oder anzugreifen, um zu bewahren oder zu erobern. Um daher die aufeinanderfolgenden Formen der öffentlichen Gewalt zu analysieren, kann man sich auf ihre Kriegs- oder Militärorganisation stützen und zeigen, wie diese voneinander abhängen. Das sind für Frankreich die Verordnung vom 2. November 1439 und die Einführung der ständigen Armee: ein Gesetz für das Königreich, eine Armee für dessen Einhaltung und eine königliche Steuer für deren Unterhalt. Es sind die Armee und das Gewicht des Staates unter dem Ancien Régime, die Revolution und das Kaiserreich, anhand einer vergleichenden Analyse: ein Teil der öffentlichen Ausgaben, eine Dezimierung der Bevölkerung, wirtschaftliche und geografische Folgen...und das Beispiel der Marine unter Ludwig XIV und Ludwig XVI[3].
Es bietet sich eine gute Gelegenheit, die wichtigen Begriffe über das Entstehen der öffentlichen Gewalt und ihre Funktionsweise in der Geschichte zu erwähnen. Die Beteiligung der Bevölkerung am Krieg und später an der Verteidigung in allen Formen kann Gegenstand einer langfristigen geschichtlichen Entwicklung sein. Die Entwicklung der Waffen und Rüstungsgüter, der Einsatzdoktrin und der Strategien kann gegebenenfalls in dieser Aufklärung auch ihren Platz haben.
Den Krieg aus wirtschaftlicher Sicht untersuchen: das ist die Mobilisierung der Staaten im Ersten Weltkrieg, auf mehreren Ebenen in Frankreich und in Deutschland ab 1915, indem man auf den Unterschieden zwischen den Räumen und Zeiten des Krieges und der „Totalisierung“ der Volkswirtschaften beharrt, die zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedlich waren[4].
Es ist daher bemerkenswert, dass sich die UdSSR de facto mindestens seit Ende der Dreißigerjahre für eine wirtschaftliche und industrielle Mobilisierung einsetzt, Großbritannien 1940 diese beginnt und Deutschland diesen „totalen Krieg“ für das Dritte Reich erst ab 1943 einsetzt. Die Vereinigten Staaten, das „Arsenal der Demokratien“, beginnen ihre Aufrüstung ab 1940 mit dem „Two Oceans Navy Act“ und mobilisieren 1942 unvergleichliche industrielle Kapazitäten. Dennoch verzeichnen sie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine wirtschaftliche Rezession, die sie mit dem Marshall-Plan kompensieren.
Der Zusammenhang zwischen dem Krieg und den politischen Regimes ermöglicht tatsächlich eine Differenzierung der militärischen Organisation von Demokratien und totalitären Staaten sowie der Beziehungen zwischen Frankreich, der Republik und ihrer Armee. Nehmen wir das Beispiel des Krieges von 1870-1871 mit der Abfolge von drei Kriegen: dem kaiserlichen Krieg, dem nationalen Verteidigungskrieg und dem Bürgerkrieg; und drei Armeen, deren Rekrutierung, Organisation und Einsätze direkt mit dem jeweiligen politischen und militärischen Kontext in Zusammenhang stehen. Das ist auch der Fall unter der Republik, während der Kolonialisierung und Entkolonialisierung, zur Zeit der Dreyfus-Affäre, in den beiden Weltkriegen und bis zu den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, mit deren Folgen auf die Modernisierung oder den Wiederaufbau der Armee[5]. Frankreich nach 1945 zu regieren bedeutet auch, die Organisation der nationalen Verteidigung und Sicherheit in Frankreich seit 1946 zu untersuchen (Verordnungen von 1946 und 1959, Weißbücher von 1972, 1994, 2008 und 2013, Strategische Überprüfung von 2017)[6].
Der Krieg, die Nation, der Staat und das Volk: von der feudalen Landesdefension bis zur ständigen Armee, den Söldnern zur nationalen Armee, den Bürgerwehren zur bewaffneten Nation, von der allgemeinen Wehrpflicht zum Berufsheer: Formen des Einsatzes, des Loyalität gegenüber dem Staat und dem Bürgersinn[7].
1.2 Der Krieg ist Teil der Geschichte der Beziehungen zwischen den Staaten
An zweiter Stelle ist die wichtige Rolle der militärischen Wirklichkeit in den internationalen Beziehungen zu betonen. Unter Hervorhebung der entscheidenden Momente lässt sich die Verbindung zwischen den Machtverhältnissen zwischen Staaten, Allianzsystemen und den anwesenden Truppen verstehen.
Das „frühe 20. Jahrhundert“ erlebt einen Wandel der militärischen Natur des Krieges. Der Krieg bestimmt fast alles, ab dem Wendepunkt von 1914-1915, bei den Alliierten wie bei den Mittelmächten: die militärische Vermassung und materielle Mobilisierung betreffen fast alle Aktivitäten der Menschen in den kämpfenden Nationen [8]; die Zwischenkriegszeit ist nur eine kurze Phase: sie dauert von 1925 (Locarno) bis 1931 (Chinesischer Krieg). Der Zweite Weltkrieg ist eine Konfrontation, an deren Bedingungen es nichts zu rütteln gibt: Vernichtungskrieg im Osten (Invasion der UdSSR, 22. Juni 1941), bedingungslose Kapitulation im Westen (Konferenz von Anfa, Januar 1943). Die Streitkräfte werden zu Instrumenten, deren politische Natur zur Schau getragen wird: die Streitkräfte der Freiheit für die Alliierten, die Beteiligung der Wehrmacht an den Naziverbrechen, die Rote Armee als politisches und ideologisches Expansionsmittel.
In der „zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ ändert die Kerntechnik die Lage. Die schreckliche Erfindung einer totalen Waffe, eines Mittels zur endgültigen Vernichtung, eines umfassenden, endgültigen und zerstörerischen Todesinstruments. Auch wenn das 20. Jahrhundert die Erfahrung des absoluten Bösen bringt, ist es auch jenes, in dem die Waffe entsteht, die allen Waffen ein Ende setzten sollte und allen Menschen ein Ende setzen könnte. „Frieden ist unmöglich, Krieg ist unwahrscheinlich“, wie es Raymond Aron formulierte. Das ist das Hauptproblem des „Kalten Krieges“ zwischen 1947 und 1991.
Es herrscht ein politischer und militärischer Zwang, weil einfache Regeln von ganz wenigen Staaten vorgeschrieben werden, die einen eigenartigen, geschlossenen „Club“ bilden. Die Beziehungen zwischen den Staaten während des Kalten Krieges sind davon geprägt. Die wichtigsten Krisen dieser Zeit (Berlin, Kuba) spielen sich unter der nuklearen Bedrohung ab. Die Kriege des Kalten Krieges finden in Bezug auf die große Herausforderung, die Europa darstellt, nur am Rande statt (Korea, Vietnam, Afrika) und werden manchmal stellvertretend von instrumentalisierten Akteuren geführt, die sich mehr oder minder direkt auf eine der beiden Großmächte stützen (Afghanistan, Vietnam). Europa ist der Schauplatz massiver Militärübungen und großer Spannungen, die in der besonderen Phase der Jahre 1975-1985 die Beziehungen zwischen den UdSSR und den Vereinigten Staaten weiter abkühlen: 1983 versetzt die NATO-Übung Able Archer die Sowjets in Alarmzustand, vor dem Hintergrund der beidseitigen Stationierung nach dem Nato-Doppelbeschluss (Pershing II und SS-20).
Seit den Neunzigerjahren bedrohen sich die beiden Großmächte, die Bomben zu ihrer gegenseitigen Zerstörung entwickeln, bauen und herstellen, nicht mehr gegenseitig; letztendlich liefert ihnen ein Dialog auf Augenhöhe einen komfortablen Rahmen für eine vernünftige Vereinbarung mit diplomatischen Mitteln, welche deren Verwendung begrenzen sollen, auch wenn ihre Mechanismen eher der Geschichte als der Gegenwart angehören (SALT-Abkommen, START- und INF-Vertrag[9]). Jedoch erheben sich Staaten, die sich in vielerlei Hinsicht noch in der Steinzeit befinden, unvernünftig und sinnlos, weder da noch dort: „Schwellenländer“, bei denen der Einsatz von Nuklearwaffen oder die Drohung damit eher einem Vorwand, einer Fantasievorstellung oder einer gefährlichen Realität gleichkommt[10].
Der Rahmen der Beziehungen zwischen den Staaten ist ziemlich in die Jahre gekommen: das zeigen die Lockerung der Allianzsysteme, der Zustand der transatlantischen Beziehungen sowie das Auftauchen neuer Militärmächte. Die Entwicklung der atlantischen Allianz und ihres bewaffneten Arms, der NATO, mit neuen Mitgliedern, neuen Aufgaben und neuen Mitteln hat ein im Aufbau der Verteidigung befindliches Europa überrumpelt, während sich der Schwerpunkt der Gebiete mit Spannungen im militärischen Bereich und in der Schifffahrt nach Asien verlagert, wie die strategischen Anliegen der Vereinigten Staaten seit der Präsidentschaft Obamas.
Die Meere und Ozeane befinden sich heute mehr denn je zuvor in der Geschichte im Zentrum eines Wettstreits, einer Konkurrenz und eines Kampfes auf und unter den Meeren. Die Beziehungen, das Gleichgewicht und die Machtposition sind dabei die Herausforderung, der Spiegel und der Indikator, wie die Kriegsflotte eines der Elemente des „Maßes“ für die Macht eines Staates ist.
1.3 Der Krieg kann als wiederholte Geschichte der Konfliktformen verstanden werden[11]
Die Schlacht bleibt ein echtes Geschichtsobjekt. Obwohl sie lange Zeit als klassische Tragödie mit einer zeitlichen Einheit, einer Handlung und einem Ort charakterisiert wurde, hat sie sich im Laufe der Geschichte zeitlich und räumlich ausgedehnt und dauert nun nicht mehr einen oder zwei Tage, sondern monate- oder sogar jahrelang (Verdun, Stalingrad, die Belagerung Leningrads). Manchmal fällt nicht einmal mehr eine Entscheidung (Jütland). Ohne auf die „Schlachtengeschichte“ zurückzukommen, die überdies zu oft und auf ungerechte Weise ins Lächerliche gezogen wurde, lässt sich nunmehr zeigen, dass der Krieg eine Konstante der Beziehungen zwischen Völkern und Staaten ist. Die Lehre vom Krieg bedeutet die Lehre von den Konflikten und Formen, die sie später in der Geschichte annehmen. Die Entwicklung der Konfliktformen führt jedoch auch dazu, dass sich die Forschung und Lehre der Geschichte nun auch einem neuen Ansatz des Krieges zuwendet, der den Ansatz des patentierten Generalstabs mit dem des Truppenoffiziers ergänzen soll.
Die Entwicklung der Konfliktformen führt heute dazu, dass die Soldaten nicht mehr von den Gesellschaften getrennt werden können, getreu den Historikern der Annalen, denen wir diesen „globalen“ Ansatz der Geschichte verdanken. Die Art, in der sie das Leiden und den Tod ausdrücken und in der sie diese zufügen, erklärt uns durch die Leichtfertigkeit, Verherrlichung oder Grausamkeit in einer einzigartigen Sprache, was in ihrem tiefsten Inneren steckt. Es ist die „Kriegsgewalt“, der nun unumgängliche Topos unserer Lehren, der nicht nur für den Ersten Weltkrieg (dessen Untersuchung am Anfang dieses historiografischen Fortschritts) anwendbar ist, sondern auf alle historischen Räume und Zeiten bis heute.
Die Untersuchung der „Kriegsgewalt“ ermöglicht die Berücksichtigung der Soldatenmassen, zeigt, was sie zusammenhält, mit dem gleichen Elan emporhebt oder trennt, sie in der Ehre vereint oder in der Angst oder Flucht auseinandertreibt. Als Folge der Entwicklung der Konfliktformen, ihrer Vermassung, ihrer Ausdehnung auf alle Aktivitäten der Menschen verweist uns die Kriegsgewalt auf die Gesellschaften mit ihren Möglichkeiten und Grenzen, ihren Hierarchien und die Formen, wie sie gemeinsam leben — und sterben! — wollen.
Auch wenn der lange Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg keine Schlacht mehr ist, stellt er vielmehr die nicht enden wollende Belagerung der Mittelmächte zwischen der Marne-Schlacht (September 1914) und der Marne-Schlacht (Juli 1918) dar. Der Erste Weltkrieg wird für die Alliierten in vielerlei Hinsicht auf dem Meer gewonnen und nicht an Land verloren. Daher setzt sich die Rückkehr einer Geschichte durch, die sich voll und ganz auf die Einsätze als unerlässlichen Rahmen für alle Lehren aus dem Ersten Weltkrieg konzentriert und die auch ihren weltweiten Charakter, das heißt den Bezug zum Meer und zu den Schiffen, wiederherstellen soll[12]. So hält der Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte zehn Jahre nach dem Krieg fest: „Obwohl die Hauptanstrengungen des Krieges den Landstreitkräften zukamen, wäre es dennoch ein Fehler, die Bedeutung des Seekriegs zu verkennen, der uns die „Herrschaft auf See“ sicherte, die für den Sieg notwendig war“[13].
Jedoch stellt sich die Frage: wie haben die Soldaten das ausgehalten? Einer der interessantesten Aspekte der Hundertjahrfeier für den Ersten Weltkrieg unter diesem Gesichtspunkt ist die Gegenüberstellung der „Schulen“ des Zwanges und des Einverständnisses, mit einer möglichen Auflösung scheinbar unvereinbarer Positionen über die Autorität als Beziehung und ihre Entwicklung zwischen 1914 und 1918, entsprechend der geänderten Art des Konflikts und seiner militärischen Formen[14].
Der Zweite Weltkrieg verzeichnet eine Überlagerung extremer Konfliktformen. Daher können dabei Erklärungsmuster historischer Phänomene zusammengeführt werden: der „Krieg im Osten“ nach der Invasion der UdSSR vom 22. Juni 1941 kann sukzessiv und insgesamt als Vernichtungskrieg, Kriegsgewalt, Misshandlung und Vernichtung der Juden in Europa analysiert werden, wobei sich im letzteren Fall der Charakter ändert und ein Phänomen wahrgenommen wird, das im Zuge einer sorgfältigen historischen Aufarbeitung absolut beispiellos, einzigartig und ungewöhnlich bleibt.[15].
Jedoch ist zu beachten, dass die historischen Wahrheiten nicht verwechselt werden: der Begriff „Misshandlung“ stammt aus einer Studie des Soziologen Georges Mosse, der die Folgen des Ersten Weltkriegs auf die politischen Verhaltensweisen im Deutschland der Weimarer Zeit analysiert[16]; die „Kriegsgewalt“ sind die Konflikte im eigentlichen Sinn (einschließlich der Entkolonialisierung); die Vernichtung der Juden sowie Sinti und Roma beschreibt einen einzigartigen Völkermord. Der „Vernichtungskrieg“ seinerseits betrifft nur den europäischen kontinentalen und östlichen Teil im Zweiten Weltkrieg ab dem 22. Juni 1941 ohne Berücksichtigung der anderen Fronten. Der Zweite Weltkrieg erstreckt sich auf die ganze Welt, das heißt es gibt auch andere Fronten als die Ostfront: die Schlacht im Mittelmeer, die Atlantikschlacht, den Pazifikkrieg, die Landungen von 1942 bis 1945 spielen hier eine wichtige Rolle, welche durch die Untersuchung der Wechselwirkungen dieser Fronten abgebildet werden kann.
Die heutige Geschichte ist völlig anders, mit tausenden zivilen Terroropfern und Soldaten, die in Afghanistan sowie auf anderen Schauplätzen von Auslandsoperationen für Frankreich gefallen sind. Eine Zeit, in der die Trennlinie zwischen Frieden und Krieg verschwimmt, in der „Grauzonen“ zwischen Verteidigung und nationaler Sicherheit auftauchen, in der sich moderne Waffen und Kämpfer in Kriegen vermischen, die als „asymmetrisch“ bezeichnet werden. Heute muss die Arbeit des Historikers über die Konflikte unserer Zeit im Zusammenhang mit einer neuen „Maritimisierung der Welt“ beleuchtet werden.
2. Konflikte unserer Zeit
Der Golfkrieg ist der erste und letzte Konflikt unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges, mit dem Ende dessen, was Georges-Henri Soutou einen „fünfzigjährigen Krieg“ nannte[17]. Er war bis zum Libyenkrieg (März-Oktober 2011) der einzige Konflikt seiner Art zwischen einem Staat und einer Staatenkoalition, der von der UNO legitimiert wurde und mit dem sich zwanzig Jahre später interessante Vergleiche anstellen lassen.
Die jüngste Geschichte erlebt das Entstehen von „Grauzonen“ mit nicht staatlichen Akteuren, irregulären Konflikten und Einsätzen an Auslandsschauplätzen in Konflikten mit großer und geringer Intensität. Für Frankreich waren das im 21. Jahrhundert Afghanistan, Libyen und die Elfenbeinküste, seit Januar 2013 Mali, seit September 2014 der Nahe und Mittlere Osten gegen den „Islamischen Staat“ und die Folgen dieser Konflikte der neuen Art auf nationalem Boden oder weit über unsere Grenzen hinaus. Die zeitgenössischen Konflikte der letzten zwanzig Jahre sind unter anderem durch drei Fragen gekennzeichnet, die im Folgenden besprochen werden: die irregulären oder „asymmetrischen“ Kriege, die auf dem Recht und Respekt der menschlichen Person begründeten Kriege und das neue Gesicht des Krieges[18].
2.1 Die irregulären oder asymmetrischen Kriege in reduziertem oder starkem Ausmaß sind das Kennzeichen der neuesten Konflikte.
Während die Nuklearwaffen zur Abschreckung vor dem Krieg führten, entstanden in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts organisierte, bewaffnete Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen der Aufstand und die Guerillabewegung auf klassische Kriege zwischen vergleichbaren Streitkräften abzielte. Sie beendeten eine Form der militärischen Überlegenheit der Kolonialherren über die Kolonialisierten, vor allem wenn diese selbst von den Deutschen oder Japanern im Zweiten Weltkrieg geschlagen wurden.
Die Konflikte, die den Nahen und Mittleren Osten mit Blut tränkten, können in ihrer historischen Entwicklung im Lichte dieser Analyse verstanden werden, von der Geburt des Staates Israel 1948 bis zur Suez-Krise (1956), dem Sechstagekrieg (1967), dem Jom-Kippur-Krieg (1973) und den libanesischen Schlachtfeldern. In diesem Zusammenhang stehen auch die beiden Entkolonialisierungskonflikte Frankreichs in den Fünfzigerjahren, in Indochina von 1945 bis 1954 und in Algerien von 1954 bis 1962, mit einem dreißig Jahre dauernden Krieg für Indochina von 1945 bis 1975. Der Sieg des Schwachen über den Starken ist also möglich, wie die sowjetische Niederlage in Afghanistan zeigt (1979-1989).
Der wirkliche Bruch geschieht jedoch während dieser dreißig Konfliktjahre, von den Fünfzigerjahren bis zu den Achtzigerjahren und den Kriegen in Afghanistan und im Irak seit 2001 und 2003. Die Zahl der Toten durch die Kriege in Indochina, Algerien und Vietnam, wobei in einigen von diesen Wehrpflichtige zum Einsatz kamen, die gegenseitigen Vergeltungsmaßnahmen sowie die Traumata, die sie hervorriefen, lassen keinen Vergleich mit den Konflikten unmittelbar nach dem Kalten Krieg zu. Der Golfkrieg bestand aus sechswöchigen Luftoperationen und brachte einige hundert Tote auf Seiten der Koalition mit den USA. Hingegen zählte man für jeden im Kampf gefallenen amerikanischen Soldaten 1000 bis 2000 irakische Gefallene. Seit 2011 herrscht jedoch in Syrien ein Bürgerkrieg, ein ideologischer und religiöser Krieg mit regionalen, interalliierten und internationalen Dimensionen, in dem die Zahl der Toten bereits in die Hunderttausende und die der Vertriebenen in die Millionen geht.
Tiefe Veränderungen der westlichen Gesellschaften von den Siebzigerjahren bis heute, eine Form der Ablehnung des Todes und militärischer Verluste führen dazu, dass längere kriegerische Handlungen mit vielen Opfern für die Öffentlichkeit nicht mehr akzeptabel sind, egal ob sie gegen irreguläre Gegner geführt werden oder nicht. Es kam die Zeit der kurzen, heftigen Einsätze mit Drohnen und Streitkräften, die sich aus Berufssoldaten zusammensetzten. Das Problem besteht darin, dass mit diesen Mitteln brutale und unmittelbare Aktionen durchgeführt werden, die zweifelsohne effizient sind, jedoch dazu führen, dass man das gewünschte Resultat und den langen Zeitraum aus den Augen verliert. Man kann diese Schlachten gewinnen. Wie gewinnt man den Krieg?
In dieser Entwicklung spielte das Auftauchen oder vielmehr das erneute Auftauchen des Terrorismus mit dem 11. September 2001 als Wendepunkt eine wesentliche Rolle. Wie soll man heute zwischen dem Militärangehörigen, der eine Waffe trägt, dem Soldaten, der eine Uniform trägt, dem Kämpfer, dem Widerstandskämpfer und dem Terroristen unterscheiden? Das alte Dilemma, das uns auf unsere eigene Geschichte zurückwirft ... und auf das man mit einer uneingeschränkten Analyse der Zwecke des Kampfes reagieren muss. Der Terrorismus ist eine Form des irregulären Krieges, dessen politische Folgen und psychologische Auswirkungen weitaus größer als die physischen Auswirkungen sind. Er mobilisiert andere Mittel.
Er skizziert und kennzeichnet eine Schwächung des Begriffs und der Gegebenheiten der Grenze, welche die internationalen Beziehungen in der modernen und heutigen Zeit strukturiert hatte. Die Bedrohungen von innen und außen haben sich vermischt. Die innere und äußere Sicherheit ebenfalls. Von der „nationalen Verteidigung“ im Weißbuch von 1972 ging man in Frankreich zur „Verteidigung“ im Weißbuch von 1994 und zur „nationalen Verteidigung und Sicherheit“ im Weißbuch von 2008 und bis zu jüngeren Arbeiten über. Die Entwicklung der Formulierungen ist aussagekräftig und führt dazu, dass die Reform der Verteidigung ständig angepasst wird[19].
Die Guerillabewegungen der Kolonialkonflikte waren bis 1945 an den Kolonialherren gescheitert. In den Entkolonialisierungskriegen gewannen sie. Die irregulären Kriege unserer Zeit haben andere Ziele. Sie verändern ihr Gesicht. Sie verpflichten die Militärmächte, die sie bekämpfen, über ein umfassendes, aufwändiges Arsenal in Konflikten zu verfügen, die nahtlos von einer „niedrigen“ zu einer „hohen“ Intensität übergehen, mit einer Unmittelbarkeit und Lenkbarkeit der politischen und militärischen Entscheidung im Zusammenhang mit einer Intervention, deren Legitimität sich gleichzeitig erweisen und bewähren muss[20].
2.2 Die Frage der Legitimität des Krieges steht im Zentrum der heutigen Konflikte.
Auch wenn Einsätze mit „humanitärem“ Charakter in der Geschichte etwas weiter zurückliegen (Napoleon III. in Syrien 1860, Biafra in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, Truppen zum Schutz, zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Friedens unter dem Mandat der Vereinten Nationen zwischen den Fünfzigerjahren und den Neunzigerjahren), verzeichneten sie in der Zeit unmittelbar nach dem Kalten Krieg einen einzigartigen Augenblick, als sich das Zeitalter der Konflikte durch friedfertige Ansätze, den Triumph des Liberalismus und die vom Völkerbundsyndrom befreite UNO aufzulösen schien. Alles in allem das Ende der Geschichte.
Die Entwicklung von Praktiken mit humanitärem Charakter, die Rolle der Öffentlichkeit und der Medien, eine universelle Diskussion über die Menschenrechte: die Globalisierung verkürzt die Distanzen zwischen den Opfern einerseits, den Akteuren der Gewalt und den Anbietern von Unterstützung andererseits, mit dem Kriegsrecht im Krieg und zum Krieg als Maßstab. Der Irak 1991, Somalia 1992, Ruanda 1994 und Bosnien 1995: eine Reihe humanitärer, militärischer und militärisch-humanitärer Einsätze in einer Art der Verquickung von Interventionen, Zuständigkeiten und Befehlsketten, die es auch erlauben, die Massaker von Srebrenica im Juli 1995 zu verstehen. Der Kosovokrieg im Jahr 1999 markiert eine doppelte Niederlage, die humanitäre einerseits und die der Vereinten Nationen andererseits. Die NATO sollte die Aufgabe übernehmen, mit unbestreitbarer Effizienz und begrenzter Legitimität.
Der 11. September lässt den humanitären Bereich zugunsten des Kampfes gegen den Terrorismus und der nationalen Sicherheit in den Hintergrund treten, unter dem Deckmantel von UNO-Resolutionen, in gelegentlichen Koalitionen oder nicht. Es folgen zehn Jahre mit Einsätzen in Afghanistan mit doppelter Prägung durch die USA und die NATO. Mit dem Irakkrieg tut sich jedoch eine „Krise der Normen“ auf: Sind die Werte, die von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und ihren Verbündeten ohne Unterstützung des Sicherheitsrates der UNO getragen werden, auch die gemeinsamen Werte der „internationalen Gemeinschaft“, das heißt nur der westlichen Staatengemeinschaft?
Der Fall Libyens scheint zumindest vom westlichen Standpunkt aus klarer. Die Zivilbevölkerung in Bengasi ist bedroht. Die Vergeltungsmaßnahmen von Gaddafi und seinen Anhängern sind überstürzt und wenig vorhersehbar. Eine Zusammenkunft des Sicherheitsrates, des Golf-Kooperationsrates, der Arabischen Liga und einiger anderer. Eine ineffiziente und übermäßig ausgestattete Armee, eine starke, konzentrierte Opposition, scheinbar keine Gefahr für einen regionalen Flächenbrand. Das genaue Gegenteil von Syrien. Vom 19. März bis 23. Oktober 2011: vor allem französische Luftschläge. Eine gute, solide französisch-britische Zusammenarbeit im See- und Luftbereich. Die Unterstützung der Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO auf dem Gebiet der Planung, Aufklärung und Betankung in der Luft. „Leadership from behind“ und „New modesty“ sind am Werk: ein Stellvertreterkrieg, mit Hilfe von Logistik, Raketen und Drohnen, den sich die Amerikaner scheinbar seit Januar 2013 in Mali und zur Fernunterstützung für eine vor allem militärische Operation durch Frankreich, Mali und den Tschad liefern. Mit welchen Ergebnissen? Dem Zerfall des libyschen Staates, militärischen Arsenalen im freien Warenverkehr und der Sahelzone, die Terroristen verschiedenster Richtungen ausgeliefert ist.
In diesem Zusammenhang hat sich Frankreich in der internationalen Koalition engagiert, um dem Vormarsch des „Islamischen Staates“ in Syrien und im Irak entgegenzuwirken. Es entsendet seine Soldaten nach Afrika, was zugleich die veränderte internationale Ordnung sowie die Wechselwirkung der inneren und der äußeren Sicherheit beweist und die Konflikte in unserer Zeit prägt[21].
2.3 Seit Ende des 20. Jahrhunderts fanden entscheidende Veränderungen statt, die ein neues Gesicht des Krieges zeichnen[22].
In erster Linie ist es eine Art des Niedergangs der realen Staatsmacht zugunsten überstaatlicher Einrichtungen und zwischenstaatlicher Netzwerke und einer unwahrscheinlichen „internationalen Gemeinschaft“. Die Interaktion von Staaten, die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Interessen, die gegenseitige Durchdringung der Gesellschaften aus unterschiedlichen Kulturen und historischen Entwicklungen heraus bilden so viele Faktoren für Konflikte und Kooperationen gleichermaßen, sowie Faktoren für die ständigen Auflösungserscheinungen ihrer Beziehungen hin zu folgenden, teilweisen, provisorischen und möglichen Neuordnungen. Weder eine Verwilderung der Welt, noch ein Rückgang der Gewalt in der Geschichte, sondern ein unsicheres, gefährliches Mittelding. Nach der Zeit der Reaktion in den Jahren 1960 bis 1990 ist die Zeit der Fragen gekommen.
Dieser historische Rahmen ermöglicht es zu verstehen, dass die alten Kriegsnationen von früher, nachdem sie zu entwickelten Gesellschaften des postindustriellen Zeitalters wurden, weniger Wert auf die militärische Frage legen, entsprechend dieses bedeutenden Wandels, durch den sie den Übergang von der Verteidigung der Grenzen aus der Zeit der klassischen Konflikte zur Verteidigung im Schutze der Atomwaffen verzeichnen, die weder einen kollektiven Einsatz, noch individuelle Opfer fordert, und dann zur Verteidigung ohne Grenzen der heutigen Kriege.
Berufssoldaten auf fernen Schauplätzen und Terrorattentate auf dem Boden jener Nationen, die sich außerhalb ihrer Grenzen einsetzen, um die Verteidigung der Werte, die sie einen, sicherzustellen und zu bekräftigen. Spezialstreitkräfte ersetzen die großen Bataillone; gezielte Schläge die Bombenteppiche; die Präzision die Anzahl. Der Krieg aus der Ferne. Mit einer der ersten Konsequenzen, die den meisten dieser alten, in der Geschichte verhafteten Ländern gemein ist: die Lockerung der „Verbindung Streitkräfte – Nation“[23]. Die Konflikte unserer Zeit sind keine totalen Kriege mehr, in denen es um das Überleben der Nation geht. Bürger- oder Unabhängigkeitskriege, Auslandsinterventionen unter Kombination aller Vorgehensweisen, im Rahmen einer Allianz oder einer Ad-Hoc-Koalition. Das Ende der großen rationellen, politischen und staatlichen Kriege. Bekämpfung von Terroristen, Piraten und Schleppern. Konflikte mit „geringer Intensität“ gegen transnationale subversive Gruppen, die zu kriegerischen Handlungen führen können. Ein weiterer Irrweg oder eine andere Richtung?
Gleichzeitig verändert sich die internationale, militärische und kriegerische Lage von der Bedrohung der Grenzen zur Bedrohung ohne Grenzen und daher von der Verteidigung der Grenzen zur Verteidigung ohne Grenzen. Mit dem Terrorismus als ständigen Hintergrund, nicht in der Ferne sondern im eigenen Land, und dem Nachrichtendienst als vorderste Front der Verteidigung und nationalen Sicherheit[24].
All dies geschieht in einem Umfeld, in dem sich auf dem Meer, über dem Meer, unter dem Meer und am Meeresgrund andere, oft leisere Kämpfe abspielen.
Was sich heute abspielt, ist die Verbindung des Schutzes des Hoheitsgebiets und der Machtprojektion, der unvollendete Übergang von der Bedrohung an den Grenzen und der Verteidigung an den Grenzen zur Bedrohung ohne Grenzen und zur Verteidigung ohne Grenzen, zu Fragen im Zusammenhang mit terrestrischen Grenzen und Allianzsystemen mit einer maritimen Dimension der Machtausübung, in globalisierten Gebieten und im Bereich der Möglichkeiten[25]. Mit einer kostspieligen und komplizierten Konsequenz: der Notwendigkeit, auf Befehl der Staatsmacht über einen möglichst umfangreichen militärischen Schiffsapparat zu verfügen, der je nach den gewünschten Ergebnissen verfügbar und anpassbar ist, in einem Operationsgebiet mit den Dimensionen eines maritimen Raums, dessen Beherrschung zu einem der Globalisierungselemente geworden ist. Die Machthierarchie hat eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Macht und Lenkbarkeit verschmelzen miteinander[26].